Rabenmond - Der magische Bund
hätte nichts Neues beizusteuern.«
»Wieso, was für Gerüchte?«
»Wo soll ich anfangen? Er macht ein großes Geheimnis aus sich, weil er ein Spion der Drachen ist, heißt es. Er wurde nicht von seinem Vater ausgebildet, weil er ihm nicht den nötigen Respekt zollen wollte. Er missachtet die Gesetze der Gilden, indem er Lehrlinge aus dem Volk nimmt. - Entschuldige, ich wollte nicht...«
Mion winkte ab. »Schon in Ordnung.«
Atlas fuhr sich über die Lippen. »Nun ja, und dass sich Jagu ausgerechnet zwei Mädchen ins Haus geholt hat und ihr nicht gerade wie Stachelschweine ausseht, müsste dir aufgefallen sein. Da kann man sich leicht denken, was seine Gründe sind.«
Natürlich war Mion klar, dass die Gildenmitglieder etwas Derartiges vermuteten. Sie hatte es ja selbst lange genug befürchtet. Aber trotzdem machte es sie wütend. »So, das ist also Jagus Ruf.«
Atlas musterte sie aufmerksam, ob sie noch mehr sagen würde. »Und, stimmt es?«
»Natürlich nicht!« Sie verschränkte die Arme. Am liebsten hätte sie Atlas erklärt, was Jagu vorhatte, aber das konnte sie wirklich nicht.
»Manche sagen, Jagu trage böses Blut in sich. Seine Mutter war schon eine einfache Frau aus dem Volk. Viele Gildenmitglieder meinen, er bringt Schmach und Schande über sie - wegen seiner Herkunft und allem anderen. Wäre er kein so begabter Maler...«
Sie atmete tief durch. »Jagu ist edler, als ihr alle denkt. Ich kenne keinen Menschen, dem Gerechtigkeit so wichtig ist.«
Atlas zuckte die Schultern. »Aber er hat Faunias Herz gestohlen.«
Mion verdrehte die Augen. »Er hat nicht Faunias Herz gestohlen. Sie hat ihn damit beworfen.«
Atlas begann zu kichern.
»Es stimmt!«
»Beworfen mit einem Herz... das geht noch ins Auge!«
Schweigend aßen Mion, Jagu und Faunia zu Abend. Morizius lag mit Fieber in seiner Kammer - »Immer im Frühling!«, zeterte er, »Ich hasse den Frühling!« - und die Köchin und ihre Tochter hatten bereits gegessen, sodass der Meister und seine Lehrlinge heute unter sich blieben.
Der lange Tag in Gesellschaft, das viele Lächeln hatte sie ermüdet, und so saß jeder mit einer Miene über dem Suppenteller, als hätten sie sich für ihr Leben ausgelächelt. Wobei dieser Zustand bei Faunia ja eigentlich die Regel war. Seit Jagu Mion in den Kreis der Gilden eingeführt hatte, schien sie noch schnippischer geworden zu sein. Und ob Mion wollte oder nicht, steckte sie mitten in einem Konkurrenzkampf um Jagus Gunst. Es schien ihr unwürdig und lächerlich, sich auf Faunias Spielchen einzulassen, aber andererseits hatte sie kaum eine Wahl. Schließlich konnte Faunia alles Mögliche gegen sie sagen, wenn sie sie mit Jagu alleine ließ... da war es besser, so langsam wie möglich zu essen und zu warten, bis Jagu sich ins Atelier zurückzog.
Mion las vor dem Schlafen noch ein Buch. Inzwischen war sie so weit fortgeschritten, dass sie Morizius nicht mehr brauchte. Und nicht nur das - sie hatte sogar Freude am Lesen. Welche Geheimnisse die Schriften mit ihr teilten! Durch sie erfuhr sie Dinge über die Drachen, die ihr früher nie in den Sinn gekommen wären.
Zum Beispiel, dass die Gilde der Heilkundigen im Palast lebte und diesen nur mit besonderer Erlaubnis verlassen durfte. Da die Leibärzte der Drachen so viel über die Herrscher wussten, wurden sie streng von anderen Menschen ferngehalten - ein Opfer, für das die Drachen sie mit Reichtum und großzügigen Privilegien entschädigten.
Als die Buchstaben vor ihren Augen mehr und mehr zu schrumpfen begannen, klappte sie den schweren Folianten zu und rieb sich über das Gesicht. Gedanken durchschwirrten sie, Gedanken an die Gilden, den Palast und die Drachen und vor allem einen Drachen. Den einen, den sie für sich gewinnen sollte. Der sie und Jagu zu Herrschern machen würde.
Er war irgendwo dort oben im weißen Palast, nur ein paar Meilen entfernt. Sie konnte es kaum erwarten, ihm endlich zu begegnen. Sie würde alles tun, ja alles, damit sie das Spiel um dieses unbekannte Herz gewann. Und um die Gerechtigkeit. Und Jagu …
Sie stützte sich auf und tippelte eine Weile grüblerisch mit dem Fuß auf den Boden. So wie Jagu sich immer mit allem Zeit ließ, würde sie wahrscheinlich graue Haare haben, bis er ihr endlich mehr von seinen Plänen verriet. Gedankenvoll und listig mochte er ja sein, aber er schien nicht besonders gut darin, etwas in Gang zu setzen.
Kurzerhand stand sie auf und machte sich auf den Weg zum Atelier. Sie hatte sich genug
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