Rabenvieh (German Edition)
Bettbrunserin«.
»Wenn’s sonst nichts ist«, dachte ich mir, kann ich damit leben. Nach alldem, was ich bislang in dieser Familie schon hinter mir hatte, berührte mich diese Art von Bestrafung relativ wenig. Zugegeben, es war nicht gerade aufbauend und förderlich für mein Selbstwertgefühl, dass sie mich von nun an so nannten, aber immerhin noch besser als körperliche Folter oder zu hungern. Außerdem war ich davon überzeugt, dass sie mich eines Tages wieder in meinen realen Namen »zurücktaufen« würden. Ich irrte. Ich blieb über all die Jahre, bis zu meiner Volljährigkeit »die Bettbrunserin«. Diese Art von Gehirnwäsche hatte zur Folge, dass ich, wenn ich nach meinem Namen gefragt wurde, immer wieder nachdenken musste, wie ich wirklich hieß, ehe ich eine Antwort geben konnte. Ich hatte im Laufe der Jahre meinen richtigen Namen in den völligen Hintergrund verdrängt. Wie in so vielen Dingen davor irrte ich auch da, als ich dachte, dass das meine Bestrafung gewesen wäre. Das Monster hatte etwas anderes für mich vorgesehen. Dass das, was sie vorhatte, mein schrecklichster Tag werden würde, an dem ich mich bis an mein Lebensende erinnern sollte, dafür sollte gesorgt sein.
Einige Wochen später. Ein Wochentag, der einem Albtraum glich. Als ich am Morgen in die Schule kam und mir im Gang vor meiner Klasse die Straßenschuhe auszog, sah ich, wie viele meiner Mitschüler sich in der Klasse zu einer Gruppe sammelten. Zugleich fiel mir auf, dass sie, als sie mich sahen, hinter vorgehaltener Hand tuschelten und einige von ihnen ein fieses Lächeln aufgesetzt hatten. Es verunsicherte mich sofort, denn selbst eine meiner Freundinnen stand dabei. Offensichtlich konnten sie es kaum erwarten, bis ich die Klasse betrat. Ich ließ mir mit dem Anziehen meiner Hauspantoffeln Zeit, weil ich mich fragte, was es über mich, außer meiner schmuddeligen Kleidung und meinen ausgelatschten Schuhen, zu lästern gäbe. Die Blicke meiner Klassenkameraden richteten sich auf mich, als ich kurze Zeit darauf das Klassenzimmer betrat. Unbewusst wandte sich mein Blick auf die rechte Seite der Tafel und was ich da las, sollte mein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein auf brutalste Art schädigen.
Auf der Tafel stand: »Guten Morgen, Bettnässerin!«
Meine Mitschüler begannen höhnisch zu lachen und flüsterten sich gegenseitig Dinge ins Ohr. Ich riss mich so gut es ging zusammen und tat zunächst so, als hätte ich das Geschriebene auf der Tafel nicht gesehen und ging einfach weiter. Auf dem Weg zu meinem Platz sah ich schon von Weitem einen Zettel auf meiner Bank. Auf einem DINA4 Blatt, mit Klebestreifen auf meinem Tisch befestigt, stand: »Guten Morgen, Muffel, haben wir heute Nacht wieder ins Bett gepisst?«
In mir brach eine Welt zusammen und ich hoffte, dass in diesem Moment das Ende der Welt kommen möge. Ich riss den Zettel vom Tisch, warf meine Schultasche auf den Boden und lief mit dem Zettel in der Hand aus dem Klassenzimmer. Ich lief den Gang entlang in Richtung Toilette und sperrte mich in dieser ein. Ich weinte wie ein Baby. Ich fühlte mich so gedemütigt. Ich hasste meine Pflegemutter und ich wünschte mir in diesem Moment, dass nicht nur ich, sondern auch sie tot wäre. Aber anders als ich mir, wünschte ich ihr einen langsamen und qualvollen Tod. Ich wusste nicht, wie sie es angestellt hatte, aber ich konnte es mir nur damit erklären, dass sie es eine meiner Klassenkameradinnen erzählt haben musste und diese es unter den Mitschülern verbreitete. Ich war noch immer in der Toilette eingesperrt, als die Glocke läutete und den Unterrichtsbeginn ankündigte. Mit meinen verheulten Augen wollte ich die Klasse nicht betreten, daher beschloss ich, auf der Toilette zu bleiben.
Wenig später kam meine Klassenlehrerin auf die Toilette, rief nach meinem Namen, klopfte an die Toilettentür und forderte mich auf rauszukommen und am Unterricht teilzunehmen. Aber ich weigerte mich, die Klasse zu betreten und mich dem Gelächter und dem Gespött meiner Mitschüler auszuliefern. Meine Lehrerin ließ jedoch nicht locker, redete weiterhin auf mich ein und ermutigte mich, endlich rauszukommen und mich dem Problem zu stellen. So gab ich irgendwann auf und folgte ihr in die Klasse. Mit geneigtem Kopf ging ich an meinen Platz und auf dem Weg dorthin konnte ich förmlich die gehässigen Blicke meiner Mitschüler im Nacken spüren. Ich saß da, in mich gekehrt, niedergeschlagen, hasserfüllt, völlig am Boden zerstört. Vom
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