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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Anhofer
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ging völlig niedergeschlagen und ziellos durch die Gegend, bis ich mich irgendwann auf einer Wiese hinter einem großen Baum nahe der Schule niederließ. Während ich dort Gänseblümchen zupfte und sie zu einem Zopf flocht, beschäftigte ich mich mit meinen gerade mal zwölf Jahren das erste Mal damit, mein Leben endgültig ein Ende zu setzen. Was besaß ich, was mein Leben lebenswert machte? Nichts. Ich hatte niemanden, der mir zuhörte, wenn ich Probleme hatte. Ich hatte niemanden, an dessen Schulter ich mich ausweinen konnte. Ich hatte niemanden, der mich einmal liebevoll in den Arm nahm. Ich hatte niemanden, der mir Liebe entgegenbrachte und ich hatte niemanden, der mir zeigte, dass ich auf dieser Welt willkommen war. Stattdessen hatte ich Pflegeeltern, die mich tagein tagaus spüren ließen, wie sehr sie mich hassten und dass ich als Mensch nichts wert war.
    Ich war so in meinen Gedanken gefangen, dass ich die Zeit völlig übersah und mich beeilen musste, damit ich noch den letzten Bus nach Hause erreichte. Dass mich zu Hause Prügel erwartete, war mir klar, denn schließlich kam ich um Stunden später als ich ursprünglich sollte. Ich bekam selbst dann Prügel, wenn wir Schüler nach Unterrichtsende verspätet aus der Klasse entlassen wurden, der Schulbus nicht wartete und ich den späteren Bus nehmen musste. Meine Pflegemutter ließ diese Entschuldigung nie gelten, da sie sich von ihrer Meinung, dass ich mich nach Schulende herumtreiben würde, nicht abbringen ließ. Was hätte ich nur dafür gegeben, wenn der Bus auf dem Nachhauseweg verunglückte. Es hätte mir zwar Leid um des Busfahrers Familie getan, aber für mich hätten sich all meine Sorgen auf einen Schlag erledigt. Zu meinem Leidwesen chauffierte uns der Fahrer aber auch an diesem Tag sicher nach Hause und so stieg ich etwa zwanzig Minuten später aus dem Bus. Ich blieb noch eine ganze Weile an der Bushaltestelle stehen und sah den Bauarbeitern zu, wie sie die Schlaglöcher der Zufahrtsstraße mit Asphalt aufschütteten und planierten. Ich stand da, gedankenlos und mit einem Gefühl der Gleichgültigkeit – ich machte mir nicht einmal Gedanken über die bevorstehenden Schläge. Nichts konnte an diesem Tag noch schlimmer sein, als das, was ich bereits hinter mir hatte. Wie lange ich dort stand, weiß ich nicht. Irgendwann machte ich mich auf den Weg. Langsamen Schrittes ging ich die Straße entlang und ich wünschte mir, die Straße würde mich in ein wohlig warmes und liebevolles Zuhause führen und nicht an den Ort des Grauens. Hätte man von mir verlangt, ich müsste mit meinen ausgelatschten Schuhen bis ans Ende der Welt gehen, ich hätte es ohne eine Sekunde des Zögerns getan. Ich hätte alles getan, nur um nie wieder diesen Leuten ausgesetzt sein zu müssen. Wehmütig blickte ich auf die Grundstücke der angrenzenden Nachbarschaft und stellte mir wie so oft vor, wie schön es wäre, hier wohnen und ausgelassen spielen zu dürfen. Ganz warm wurde mir dabei ums Herz. Ich befand mich schnell wieder in der Realität, als ich wenige Augenblicke später das Gartentor öffnete und meine Pflegemutter mit Cayas Leine hinter den Thujen hervorsprang. Zur Begrüßung zog sie mir eine über den Oberkörper und schimpfte mich ein Rabenvieh. Einen kurzen Moment sah ich sie an und blickte dabei in ihre eiskalten Augen. Ohne ein Wort der Begrüßung oder einer Entschuldigung für mein Zuspätkommen ging ich einfach weiter. So, als wäre überhaupt nichts. Sie folgte mir. Hinter mir nach, einen Schlag nach dem anderen, drängte sich mich damit ins Haus.
    »Ja, drisch nur auf mich ein«, dachte ich. Es brachte sie richtiggehend in Rage, dass ich auf ihre Peitschenhiebe so gut wie überhaupt nicht reagierte. Deshalb holte sie immer weiter aus und schlug immer brutaler zu. Aber die mir seelisch zugefügten Wunden waren an diesem Tag derartig massiv, dass ich bei diesen ganzen Hieben auf meinen Körper kaum Schmerzen verspürte. Widerstandslos ließ ich die Schläge über mich ergehen und als sie »ihre Arbeit« verrichtet hatte, ging ich in den Keller. Ich war emotional so tief abgestürzt, dass ich an diesem Tag die Schiebtür hinter mir schloss und mich freiwillig einsperren ließ. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Ich wollte einfach diese ganze gewissenlose, bösartige und scheinheilige Sippschaft nie wieder sehen. Ich zog meine Hose nach unten, warf noch einen kurzen Blick auf meine Striemen und legte mich anschließend aufs Bett. Eingeigelt und mit

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