Rabinovici, Doron
sondern bloß Erwachsene. Autos donnerten vorbei.
Im Kindergarten gingen alle im
Gänsemarsch zur Toilette. Es nützte nichts, wenn Ethan erklärte, er müsse gar
nicht. Wer nicht gehorchte, dem wurde gedroht, seine Ohren würden rot gemacht.
»Ima, sag ihnen, daß ich schon daheim auf dem Klo war.« Dina sprach mit den
Erzieherinnen, bat sie, ihn nicht zum kollektiven Stuhlgang zu zwingen. Ethan
begriff nicht, weshalb die anderen Kinder nicht auch rebellierten. Tante
Hedwig sah ihre Autorität in Frage gestellt. Kaum war die Mutter gegangen,
zerrte sie ihn zur Toilette. Sie packte ihn am Schopf. Er heulte vor Wut. Sie
brüllte ihn an, zog ihm die Hose herunter, zwang ihn aufs Klo. Nach einigen
Momenten befahl sie ihm, sich die Hände zu waschen, dann stieß sie ihn hinaus.
Er taumelte weg, benommen vom Weinen. Im Spielzimmer würgte es ihn, und er
mußte sich übergeben. Jetzt schrien sie zu zweit auf ihn ein. Tante Hedwig
putzte ihn vor allen anderen herunter. Später beklagte sie sich beim Vater, der
gekommen war, um den Buben abzuholen. Felix hörte sich alles stumm an. Ethan
war in sich zusammengesunken. Er wußte nicht mehr, wie ihm geschah. Die Großen
hatten sich gegen ihn verschworen. Die Erwachsenen waren unter sich und weit
über ihm. Papa blieb reglos, während Tante Hedwig auf ihn einredete. Ethan sah
den Zorn des Vaters, als sie von seiner Ungezogenheit erzählte.
Zunächst Schweigen, nachdem
sie zu Ende gesprochen hatte, dann brüllte Abba los, doch zu Ethans Erstaunen
traf die Wut nicht ihn, sondern Tante Hedwig. Was sie sich einbilde, wer sie
sei, seinem Sohn sagen zu wollen, wann er auf die Toilette zu gehen habe. Wie
sie es wagen könne, dem Kind vorzuwerfen, daß es sich übergeben mußte. Und so
etwas nenne sich Erzieherin? Keinen Tag länger werde sein Ethan hierbleiben.
Sie aber solle nicht denken, ungeschoren davonzukommen. Dann streichelte Felix
Ethan über den Kopf und nahm ihn mit.
»Niemand«, so sein Abba
später, »darf so mit dir umspringen. Recht hattest du. Lehn dich auf, wenn sie
dich quälen. Laß dir nichts gefallen. Stolz bin ich auf dich. Es ist gut, dein
Abba zu sein. Hörst du, Tuschtusch.« Er hielt ihn dabei fest an der Hand und
führte ihn über die Straße. »Wir, Ethan, lassen uns nicht mehr auf den Kopf spucken,
um danach zu sagen, daß es regnet. Merk dir das, Ethan. Nie mehr! Du bist ein
Sabre. Hörst du, Tuschtusch.«
Die Eltern und er waren eine
Bastion. Er lernte, zwischen ihrem Auftreten nach außen und ihren inneren
Wahrheiten zu unterscheiden. Sie hatten ihre eigene Sprache, die niemand sonst
verstand, und waren mißtrauisch gegen die Sätze der anderen. Ethan kannte den
Dünkel beider Seiten. Er erinnerte sich an jene Zeit, da er sich in Israel für
sein Leben in Osterreich und in Wien für das Geburtsland zu rechtfertigen
hatte. In Tel Aviv sagte ein einstiger Freund aus dem Kindergarten, die Rosens
seien doch Abtrünnige und Verräter, aber in Wien erklärte ihm ein
Klassenkamerad, der jüdische Staat in Zion sei doch nichts als Rassismus. Seine
Existenz stand unter Mißkredit.
Allmählich nahm der Verkehr in
den Straßen von Tel Aviv zu. An einer Ampel kamen sie zwischen einem Müllwagen
und einer Pferdekutsche zu stehen. Eine junge Frau, das Haar aufgesteckt zum
Turm, ging über den Zebrastreifen. Sie sah in das Auto und lächelte Ethan zu.
Rudi nickte zurück.
Ethan starrte ihn an. Rudi:
Das war der andere, der sich in jede Ritze seiner Existenz zwängte. Als wäre er
sein ewiger Widerpart. Rudi mißverstand den Blick, erkannte nicht, den Vorwurf
darin, sondern sagte: »Sie haben uns beide belogen.«
Ethan hörte den Worten nach.
Sie waren ein Echo seiner eigenen Mißbilligung, aber jetzt klangen sie fremd.
Wieder kochte Wut in ihm hoch, und diesmal wußte er nicht, auf wen. Die Ampel
sprang auf Grün. Er gab Gas und bog in die Hauptstraße ein.
Als das Meer auftauchte,
schaute Rudi auf seinen Arm. »Ich habe meine Uhr vergessen.« Er schlug sich mit
der Hand auf das Knie und schüttelte den Kopf. Aber er wolle auf keinen Fall
zurück zu Felix und Dina. Nie wieder. Ob Ethan bereit wäre, ihm das Erbstück zu
schicken? - Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort: »Ich will
sie nie mehr sehen. Zu viele Lügen.« Er sah Felix' Kassetten in der Ablage
unter dem Armaturenbrett durch. Es waren Songs von Frank Sinatra, Sammy Davis
Junior und Barbra Streisand. Rudi sagte: »Immerzu von der Notwendigkeit der
Erinnerung sprechen, aber die
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