Rabinovici, Doron
Grunde hatte er geglaubt, der Alte würde alles überleben, sogar das
Sterben.
Dann lag er da. Wenn sie
wollten, könnten sie sich noch von Felix verabschieden. Sie standen an dem
Bett.
Sein Gesicht war wächsern. Der
Körper zugedeckt. Die Füße lagen frei. Ethan stand reglos vor dem Leichnam. Er
berührte vorsichtig die Schultet des Vaters, als fürchte er, ihn zu wecken.
Dina suchte unter dem Laken nach Felix' Hand. Sie drückte ihm Küsse darauf. Noa
streichelte ihm sachte die Stirn.
Was geschehen war, blieb
unvorstellbar, auch wenn er es sich vom Arzt ein ums andere Mal erklären ließ.
Er spürte diese Mattigkeit, die ihn daran hinderte, nachzuvollziehen, was ihm
gesagt wurde. Er hörte zu und hörte die Wörter, aber er wußte nicht, was sie
bedeuteten. Sein Verstand blieb lebendig, aber etwas in ihm war tot, war
abgestorben und würde es von nun an bleiben.
Im Krankenhaus war nichts mehr
zu tun. Sie kehrten mit Dina in die Wohnung zurück. Die Mutter ging durch die
Zimmer, als schwebe sie. Überall stieß Ethan auf Felix. Sein Geruch lag in der
Luft. Seine Kleider hingen in der Garderobe. Medikamente standen auf dem
Küchentisch. Am schlimmsten aber war das Chaos rund um die Couch.
Übriggebliebene Plastikteile. Die Verpackung der Injektionen. Ein Schlauch.
Erbrochenes. Hier hatte Abba gelegen. Er zog den Überwurf vom Sofa und packte
ihn ein, um ihn zur Reinigung zu bringen.
Die Mutter wollte alleine
bleiben. Sie winkte ab. Sie drehte das Gesicht fort. Sie müsse sich nun
sammeln. Vor allem sich ausruhen. Nein, sie brauche niemanden um sich. Nein,
sie wolle nicht zu Ethan und Noa. Nein.
»Wir kommen am Abend wieder«,
sagte Ethan. Als sie draußen waren, den Liftknopf gedrückt hatten und auf den
Aufzug warteten, umarmte ihn Noa.
Sie fuhren in ihre Wohnung,
warfen die Kleider auf den Boden und fielen ins Bett. Noa schlief sofort ein.
Ethan lag wach. Das Licht schien ihm heller und gleißender als sonst. Sein
Mobiltelefon läutete. Er schlich aus dem Schlafzimmer, um sie nicht zu wecken.
Es war Rabbiner Berkowitsch.
Er sprudelte los: »Ethan, es
ist mir sehr unangenehm.«
»Es ist nicht mehr wichtig,
Rav Berkowitsch.«
»Ethan. Hören Sie mir zu. Ich
kann verstehen, wenn Sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.«
»Felix Rosen ...«, wollte
Ethan sagen, aber der Rabbiner unterbrach ihn: »... ist unsere einzige Chance.
Felix Rosen ist der letzte. Der allerletzte. Er ist der einzige Überlebende,
der uns noch helfen kann. Wir brauchen ihn.«
»Zu spät, Rav Berkowitsch.«
»Warum? Ich werde eine Niere
für ihn finden!«
»Es geht nicht.«
»Diesen Satz gibt es für mich
nicht. Nicht die Mörder, nicht meine rabbinischen Kollegen, nicht staatliche Gesetze
werden mich aufhalten. Niemand. Hören Sie? Sonst hätte alles keinen Sinn. Ich
glaube! Begreifen Sie überhaupt, was das heißt? Haben Sie denn überhaupt eine
Ahnung davon? Glauben! Das ist keine Annahme, nicht Hoffnung, nicht Gewißheit,
das ist mein Los. Meine Losung. Mein Leben! Ich werde nicht aufgeben. Heute
können wir aus den Zellen eines alten Menschen neues Leben schaffen. Es gibt
Methoden, Felix Rosen sogar wieder zeugungsfähig zu machen. Ich werde eine
Niere für ihn finden. Ich habe aussichtslosere Situationen durchgestanden!« Er
atmete durch. »Wieso sagen Sie nichts?«
»Er ist tot, Rav Berkowitsch.
Felix Rosen ist nicht mehr.«
Schweigen, dann: »Das kann
nicht sein. Das ist schrecklich. Wir sind verloren! Welch ein Verbrechen!«
»Es war ein Herzanfall.«
»Welch ein Unglück. Eine
Katastrophe!« Der andere schien verzweifelt, aber nur einen Moment. »Vielleicht
gibt es noch Hoffnung. Womöglich können wir Zellen seines Körpers retten. Sie
sagen, es ist noch nicht lange her. Der Körper stirbt nicht auf einmal. Das ist
ja das Prinzip der Transplantation. Das Gehirn gibt kein Zeichen mehr von
sich, aber die Niere, die Leber, das Herz arbeiten noch. Warum sollte uns das
nicht auch mit seinem Samen oder mit anderen seiner Zellen gelingen? Es geht
um die Rettung der Welt.«
»Rav Berkowitsch, er ist seit
Stunden tot. Wollen Sie seine Leiche fleddern? Es geht um meinen Abba, um einen
Menschen. Haben Sie das vergessen?«
Der Rabbiner hielt inne. Ein
Seufzen drang durch die Leitung. »Sie haben recht. So kann die Erlösung nicht
kommen. Es ist alles aus. Vorbei.«
»Das Leben geht weiter, Rav
Berkowitsch.«
»Nein. Es ist vorbei.
Vergebens. Alle widersinnig hingemordet ... Alle. Vor meinen Augen. Wir
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