Rache - 01 - Im Herzen die Rache
immergrünen Tannen und auf die kahlen Zweige, die sich ineinander verflochten und schließlich eins wurden. Sie fuhren an Chase vorbei, der zu seinem Kombi trottete.
»Wir sollten ihn fragen, ob er mitfahren will«, sagte Em und ihre Stimme durchschnitt die Stille. »Zach hat vorhin erzählt, dass er ganz schön voll ist.« Sie hoffte, dass JD nicht merkte, wie sie stockte, als sie Zachs Namen aussprach. JD nickte und Em kurbelte ihr Fenster herunter.
»Hey, Chase, sollen wir dich mitnehmen?« Vielleicht wäre das hier – Chase ihre Hilfe anzubieten – ja ein gewisser Ausgleich für das, was da oben beinahe mit Zach passiert wäre.
Beinahe. Der Punkt war, dass es nicht passiert war. Und Em hasste sich dafür, dass sie deswegen enttäuscht war.
»Nö, mir geht’s gut«, versicherte Chase. Er sah schrecklich aus; kreidebleich. »Ehrlich. Fahrt nur.«
»Komm schon, Chase«, drängte Em. »Spring einfach hinten rein. Sollen wir vielleicht noch einen kleinen Umweg zu McDonald’s machen?« In ihrer Stimme lag ein flehender Unterton.
»Ich sagte, mir geht’s gut, Winters. Trotzdem danke, ehrlich.« Em war klar, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren. Und zumindest klang er nüchtern. Sie winkte ihm noch kurz zu, doch Chase starrte auf den Boden und sah es nicht.
Als sie kurz darauf um eine Kurve fuhren, strahlten JDs Scheinwerfer plötzlich drei Mädchen an, die am Straßenrand standen. Em schrie auf; sie war sich sicher, dass JD sie überfahren würde, so unvermittelt waren die drei auf einmal aufgetaucht. Doch in letzter Sekunde rauschte der Wagen haarscharf an ihnen vorbei. Einen winzigen Moment lang hatte Em Blickkontakt mit einer von ihnen: einer hochgewachsenen, üppigen Rothaarigen mit leuchtend grünen Augen. Em blieb vor Schreck fast das Herz stehen und ihr war, als hätte sie das Mädchen schon einmal gesehen. Es war wie eine Kombination aus Déjà-vu und dem Gefühl, das einen überkommt, wenn man das Foto eines Vorfahren betrachtet, der einem wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
»Was ist?«, reagierte JD auf Ems unbeabsichtigten Aufschrei.
»Ach, ich hatte bloß Angst, du würdest sie überfahren«, erwiderte Em.
»Wen denn überfahren?« JD kontrollierte den Rückspiegel. »Ich hab niemanden gesehen.«
»Die Mädchen gerade –«, begann Em zu erklären. Doch als sie auf ihrem Sitz herumwirbelte, um sich nach ihnen umzuschauen, waren alle drei verschwunden.
Kapitel 4
Chase hatte den Wagen unten an der Straße abgestellt, weit weg von der Party. Er vermied es, wenn möglich, dass die Leute seinen alten Kombi zu Gesicht bekamen. Außerdem half die schneidend kalte Luft ihm ein wenig dabei, wieder nüchtern zu werden. Er rechnete es Em hoch an, dass sie ihm angeboten hatte, ihn mitzunehmen, doch er konnte jetzt niemanden um sich haben. Was er ihr allerdings verschwiegen hatte, war, dass er einfach noch ein Weilchen im Auto sitzen und nachdenken wollte, bevor er sich auf den Heimweg machte.
Autos fuhren vorbei – wummernde Musik, johlendes Geschrei – und verwandelten sich in Paare rot blinkender Rücklichter, die in der Nacht verschwanden. Während er weiterging, konnte er Motorengeräusche in der Ferne hören. Noch immer fiel dieser gespenstische Schnee, der schon den ganzen Abend über vom Himmel gekommen war. Er fühlte ihn auf seinem Gesicht, weich und feucht.
Als Chase so dastand und noch nicht einmal den beißend kalten Wind durch seine Jacke spürte, blitzte mit einem Mal eine Erinnerung in ihm auf. Wie vor so vielen Wintern, als er acht war, Officer Worelly vorbeigekommen war und an ihre Tür gehämmert hatte. Wie seine Mom aufmachte, in Hausschuhen, trotz der Kälte. Wie sie im Schnee weinte. Und er nicht wusste, was los war, als sie ihn – viel zu grob – wieder zurück in den Wohnwagen schob. Das war an dem Tag gewesen, als sein Vater den Unfall hatte. Als Chase zum ersten Mal erfuhr, was es bedeutete, jemanden zu verlieren. Doch mit dem Verlust ging auch eine gewisse Erleichterung einher. Chase hatte seinen Vater nie gemocht. Er war immer der Ansicht gewesen, dass er bekommen hatte, was er verdiente – einen tödlichen Schlag auf den Kopf von einem defekten Maschinenteil in der Fabrik. Schon mit acht Jahren hatte er so oft mitansehen müssen, wie sein Vater seine Mom schlug, dass er nichts als eine gefühllose Leere empfand, als er erfuhr, dass er niemals wieder zurückkommen würde.
Genau dieselbe Empfindungslosigkeit umgab ihn auch jetzt, als er in die
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