Rache - 01 - Im Herzen die Rache
unter dem Cape, das ihr von der einen Schulter rutschte, trug sie nur ein kurzes Kleid und knöchelhohe Stiefel. »Magst du dich einen Moment zu mir setzen?« Sie tippte neben sich auf die Bank. Chase blickte hinauf in den Sternenlosen Himmel. Es sollte Schnee geben und die Nacht war kalt. Er hatte sich eine gemeinsame Tasse heiße Schokolade im 24-Stunden-Restaurant in der nächsten Stadt vorgestellt und dann auf dem Heimweg – endlich – einen heißen Kuss in seinem Auto. Doch er wollte Ty, die ihn erwartungsvoll ansah, als wäre es völlig normal, abends um zehn bei minus acht Grad draußen auf einer Bank zu sitzen, nicht enttäuschen.
»Nimm einen Schluck hiervon«, sagte sie und zog eine verzierte Glasflasche aus ihrer Handtasche. »Das ist dieses verrückte europäische Zeug, das ich von einem Freund habe. Es hält dich warm.«
Chase setzte sich neben sie, nahm die Flasche und führte sie zum Mund. Der Alkohol schmeckte so, wie Ty duftete – kräftig, süß und exotisch. Sie beobachtete, wie er einen Schluck davon nahm.
»Es bringt irgendwie alles zum Leuchten«, sagte sie vergnügt. »Von innen heraus.«
Er konnte ihr nur zustimmen. Er wusste nicht genau, ob es der Alkohol war, Tys Einfluss oder die ersten Symptome einer Unterkühlung, doch worauf sein Blick auch fiel – der schwarze, reifbedeckte Waldrand am McKeane Park, die verschneite Straße, die dunklen Fensterscheiben –, alles schien irgendwie zu fließen, Grenzen verschwammen, Gebäude verschmolzen miteinander.
»Ich hab noch nie um diese Uhrzeit einfach so hier gesessen« ,sagte Chase. »Es sieht so viel … älter aus. Stiller. Kann das denn sein?«
Ty lächelte. »Die Häuser, die Straßen, die Stadt, alles spricht nachts für sich selbst, findest du nicht auch?«, sagte sie. »Man kann den Ort richtig spüren. «
»Es ist nicht so mit dem ganzen Scheiß der Leute zugestopft.« Chase hoffte, dass er sich nicht allzu dämlich anhörte.
»Das ist eine tolle Art, es auszudrücken.« Ty sah ihn mit großen Augen an und lächelte sanft. Dann erhob sie sich.
»Lass uns die Gegend erkunden«, sagte sie. »Es ist schon so lange her, dass ich das letzte Mal hier war!« Chase versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was sie über ihre Zeit in Ascension erzählt hatte – dass sie vor einer Ewigkeit weggezogen war. Er fragte sich, was sie wohl gerade hier wieder wollte, doch irgendetwas an ihrer Unbekümmertheit hielt ihn davon ab, die Frage auszusprechen.
Stattdessen versuchte er, die Regie zu übernehmen. Wie er es gewohnt war.
»Hey, willst du mal was Tolles sehen, wenn du so gerne auf Entdeckungstour gehst?« Er ergriff ihre Hand und führte sie die Straße hinunter, Richtung Park. Die Verkehrsampeln blinkten alle im Nachtmodus. Auf der Straße war kein einziges Auto mehr unterwegs.
»Das ist ja wie in einer Geisterstadt!«, rief Ty in die Nachtluft.
Vor dem Rathaus, dessen Fenster alle im Dunkeln lagen, hielt er an.
»Heiraten wir jetzt?«, fragte Ty kichernd. »Ich glaube, die haben schon zu.«
Er antwortete nicht. Stattdessen schob er ein Tor auf, das sich seitlich von dem Gebäude befand. »Hier entlang.« Ein mit Backsteinen gepflasterter Fußweg führte um die Ecke in einen Hinterhof. »Das ist ein öffentlicher Platz, aber keiner weiß davon. Ich hab ihn irgendwann mal entdeckt, als ich ein bisschen durch die Gegend gelaufen bin. Ab und zu komme ich hierher – um nachzudenken.«
»Wow!« Sie holte Luft und ließ den stillen, schneebedeckten Innenhof auf sich wirken. Eigentlich war er ja nichts Besonderes, doch es ließ sich nicht leugnen, dass er bei diesem Licht etwas Magisches hatte.
»Es gibt bestimmt Leute, die im Rathaus arbeiten und trotzdem nie hierherkommen«, bemerkte er hämisch und war stolz, ihr etwas Neues zeigen zu können.
Sie wirbelte herum und ließ ein lautes »Juchhu!« los, das von den Wänden widerhallte. »Ein geheimer Garten!«
Er juchhute ebenfalls, wegen des Echos, aber auch um das Glücksgefühl herauszulassen, das er verspürte. Dieser Abend verlief genau so, wie er sollte.
»Wohin geht’s denn da?« Ty zeigte auf einen weiteren mit einem Tor verschlossenen Fußweg in der hinteren Ecke des Hofes.
»Hinten raus zur Middleschool«, antwortete Chase. »Über den Rambling Brook.«
»Ohm – lass uns nachsehen, ob er zugefroren ist!«, rief sie. Es war schwer, sich nicht von ihrer Begeisterung anstecken zu lassen.
Sie hüpfte vor ihm her, drehte sich alle paar Schritte um und winkte ihm, ihr zu
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