Rache - 01 - Im Herzen die Rache
das Gesicht ab und versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.
Ohne es zu wollen, platzte Chase damit heraus: »Da ist dieses Mädchen.«
»Jemand, den ich kenne?« Em sah ihn mit großen Augen an.
Er schüttelte den Kopf. Jetzt, wo er schon mal angefangen hatte, davon zu erzählen, konnte er auch weiterreden. Vielleicht hatte Winters ja den weiblichen Durchblick. »Sie geht nicht auf die Ascension. Sie ist anders. Und ich mag sie. Sehr. Aber ich komm irgendwie nicht an sie ran. Ich weiß nicht – ich kann nicht wirklich sagen, ob sie mich auch mag.« Chase schlug die Hand aufs Lenkrad. Er konnte nicht fassen, dass er Emily Winters, deren BH er vor nicht mal zwanzig Minuten noch in der Hand gehalten hatte, gerade sein Herz ausschüttete.
Aber wenigstens hatte sie aufgehört zu heulen.
»Willst du – dass ich mal mit ihr rede?«
»Nein«, antwortete er entschieden. »Auf keinen Fall. Ich weiß nicht, was ich will. Bloß einen Rat, glaube ich. Ich will wissen, wie ich an sie rankomme.«
Em setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Na ja, was mag sie denn so? Was macht sie in ihrer Freizeit? Ist sie ein typisches Mädchen oder eher so ein halber Junge? Was trägt sie für Klamotten?«
Chase hätte beinahe losgelacht. Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass Emily Winters völlig nutzlos für ihn war. »Keine Ahnung, was sie in ihrer Freizeit macht. Sie flippt mit ihren verrückten Cousinen durch die Gegend – Ali und Meg, einmal waren wir alle zusammen unterwegs – und sie verabredet sich mit Typen vom College. Irgendwelche Heinis, die diesen verdammten E. E. Cummings lesen.«
»E. E. Cummings war doch ein toller Schriftsteller«, erwiderte Em vorwurfsvoll. »JD und ich sind extra mal nach Boston gefahren, um sein Grab zu besuchen.« Sie wandte sich ab und malte mit dem Finger ein Muster auf die beschlagene Scheibe.
E. E. Cummings liegt in Boston begraben, dachte Chase. Das musste er sich merken. Er konnte es bei Ty fallen lassen, um sie zu beeindrucken.
Und plötzlich hatte er eine Idee.
»Du stehst doch auf Gedichte, Winters? Wie heißt noch mal das Gedicht, für das du einen Preis gekriegt hast? Unvermeidbar?«
»Unerreichbar« ,erwiderte Em schüchtern.
Chase bog in Ems Einfahrt und drehte sich entschlossen zu ihr um. »Kann ich es haben?«, fragte er unvermittelt.
»Was haben?«, fragte Em und schob sich die langen dunklen Haare aus den Augen. »Mein Gedicht?«
Chase nickte. Vielleicht sollte sich diese kurze Autofahrt am Ende noch als nützlicher erweisen, als er gedacht hatte. »Ja. Das wäre wirklich super. Sie findet es bestimmt toll. Es ging doch nicht um einen Typen, oder? Es könnte doch über irgendjemand sein?«
»Ich –«
Chase merkte, dass Em zögerte.
»Wenn du mir das Gedicht gibst, halt ich meine Klappe, versprochen«, sagte er. Es sollte eigentlich nicht so, na ja, nach Erpressung klingen. Aber es war nur fair. Auge um Auge, oder so ähnlich.
»Abgemacht?«
Em räusperte sich. »Ja. Klar«, sagte sie schließlich. »Ich schicke es dir gleich per Mail, wenn ich drin bin.«
Chase überkam eine Welle des Triumphes. Endlich schien mal etwas so zu laufen, wie er es gern hätte.
»Super. Ich melde mich wieder bei dir«, sagte er, als sie die Wagentür öffnete. »Und hey – Winters«, fügte er noch hinzu, bevor sie sie wieder zuschlug, »ist schon gut. Jeder macht mal einen Fehler.«
Später am Abend fuhr Chase ohne Umwege zu der Bank, an der Ty auf ihn warten wollte. Sie befand sich direkt vor dem Süßwarenladen, wo sich die Schüler der Ascension Middleschool freitagnachmittags immer versammelten.
Als er davor anhielt, verscheuchte Chase die Erinnerung daran, wie er und Sasha – als Laborpartner im Chemieunterricht der vierten Klasse – Root-Beer-Fässer und Gummiwürmer aussuchen wollten, um zu testen, wie die darauf reagierten, wenn man sie zuerst in Essig, dann in Wasser und anschließend in Milch legte.
Ty saß schon lächelnd da, als er ankam, umgeben vom Lichtschein einer Straßenlampe und mit einem Buch auf dem Schoß. Sonst war die Straße menschenleer. Beim Aussteigen überkam ihn ein seltsames Gefühl, so ruhig und still war die Nacht.
»Hallo«, begrüßte sie ihn, ohne sich zu erheben. Mit ihren hochgesteckten roten Haaren und einem Samtcape um die Schultern sah sie aus wie eine Prinzessin im Boho-Style. Für jemanden, der einmal in Ascension gelebt hatte, schien sie allerdings keine richtige Vorstellung vom Klima in Neuenglands Städten zu haben –
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