Rache - 01 - Im Herzen die Rache
Tagen, an denen diese schleichende Taubheit sie überkam, wie ein Nebel, der sie mit Haut und Haaren verschlang.
Und dann hörte sie auf, ohne große Erklärung. Sie verkündete – eine Woche, bevor sie sprang –, dass sie nicht mehr mit ihm chatten wolle. Sie teilte ihm mit, dass ihre Beziehung zu intensiv sei und dass sie nicht wisse, was sie davon halten solle. Er wolle sie ja nie treffen und sie käme nicht mit der Einsamkeit zurecht. Er würde sie nicht verstehen – keiner würde das richtig. Sie habe keine Lust mehr, habe es satt, dass man mit ihr irgendwelche Spielchen trieb. Also servierte sie ihn ab.
Wieder einmal.
Chase war wütend. Er war blind vor Wut – unbeherrschbarer, brennender Wut, die bis in seine Finger und Zehen reichte. Er ließ auf dem Spielfeld versehentlich den Ball fallen – wahrscheinlich das erste Mal in seinem ganzen Leben. Dann ging er mit Zach und den Jungs aus; und sie waren wieder mal solche Arschlöcher, wie immer; als er beim Burgeressen aufstand, um ein paar Servietten zu holen, lachten sie und nannten ihn ihren Laufburschen. Und Chases Zorn schwoll an, bis ins Unermessliche, ein riesiges schwarzes Ungeheuer.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, wandte sich seine ganze Bitterkeit gegen Sasha. Ich bin bloß Ausschuss, hm? Und nichts weiter?
Er hatte es auch satt, ständig mit Füßen getreten und von allen mit Dreck beworfen zu werden.
Er beschloss, sich zu wehren.
Es gab einen bestimmten Moment, als seine Hand noch über dem Upload-Button schwebte, da schrie eine Stimme in seinem Inneren: Falsch! Falsch!
Doch zweimal hintereinander Falsch ergab noch lange kein Richtig. Ein Mausklick und er sendete Sasha Bowlders intime Nachrichten und Geständnisse allesamt ungefiltert an die Ascension-High-Facebookseite.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte die Schulverwaltung die Bilder bereits wieder aus dem Netz genommen, doch da war es bereits zu spät. Jeder, der die Fotos nicht noch am Abend zuvor gesehen hatte, hatte davon gehört oder Screenshots zu Gesicht bekommen. Als Sasha morgens zur Schule kam, behandelte man sie wie ein exotisches Tier im Käfig. Sie wurde angestarrt, nachgeäfft, verspottet. Es war ihr schlimmster Albtraum, das wusste Chase.
Denn es war auch seiner.
Chase stand auf der Piss-Brücke und war kurz davor, sich zu übergeben. Er konnte nicht glauben, was er da getan hatte, wie schrecklich dumm er gewesen war. Er hatte nicht verstanden, wie sehr er das Schicksal herausforderte.
Wie sich das alles rächen würde.
Es war seine Schuld. Das wusste er genauer als alles, was er je gewusst hatte. Er hatte es schon die ganze Zeit gewusst. Alle hatten sich über sie lustig gemacht. Doch er war der Grund dafür gewesen, dass Sasha gesprungen war.
Ty hing inzwischen gefährlich weit über dem Highway in der Luft. Sie würde er nicht auch noch verlieren. Auf keinen Fall. Er hatte keine andere Wahl, als selbst über das Geländer zu klettern und sie zu überreden, zurück auf festen Boden zu kommen. Das Metall war vom Schnee ganz glatt. Jedes Mal wenn ein Auto unter ihnen vorbeiraste, spürte er einen heftigen Luftzug. Er schaffte es kaum, sich richtig festzuhalten; seine Finger waren einfach zu kalt. Zwischen dem Geländer und dem Rand des Simses lagen nicht einmal dreißig Zentimeter.
In dem ganzen Schnee, der um ihn herum fiel, ihm in den Augen brannte und verhinderte, dass er richtig sah, konnte er Ty kaum erkennen. Es war unmöglich, ihr Gesicht von Sashas zu unterscheiden. Und mit einem Mal schien sein Körperschwerpunkt in seiner Kehle zu liegen.
»Bitte Sasha … Ty … es tut mir leid. Ich weiß nicht, was hier abläuft, es ist mir auch egal. Komm einfach mit mir da runter, ja? Und wir vergessen, dass irgendwas von alldem jemals passiert ist.«
Ihre Stimme segelte hinaus in die Lüfte. »Alles, was ich will, ist ein einziger Kuss!«, rief sie.
»W … was?« Chase schob sich weiter zu ihr hin, immer näher, auf dem schmalen Sims entlang. Der Wind schüttelte seinen Körper. Unter ihnen donnerte ein Lastwagen vorbei.
Ty wandte sich ihm zu. Er meinte, Tränen über ihr Gesicht laufen zu sehen. »Bitte, küss mich«, sagte sie.
»Wenn ich das mache, hörst du dann auf damit?« Seine Beine zitterten. Seine Finger waren so kalt, dass er kaum noch das Geländer spürte.
»Es wird aufhören«, antwortete sie und ihre Augen glichen tiefen dunklen Seen. »Das verspreche ich dir.«
Zwischen ihnen lagen nur noch wenige Zentimeter. Er beugte sich
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