Rache - 01 - Im Herzen die Rache
absolut nichts zu bieten.
»Halt verdammt noch mal die Klappe, Mann«, schimpfte Ian. »Er ist tot. Red nicht so von ihm.«
Em ließ ihr Sandwich sinken.
Jetzt sprach noch jemand anderes. »Habt ihr gehört, dass er irgend so ’ne komische Blume in der Hand gehalten hat, als er sprang?«
Em erstarrte das Blut in den Adern.
»Krass.« Die Jungs lehnten sich alle ein Stück zurück und gingen etwas auf Abstand, als würden sie allein schon durch das Reden über Blumen zu Objekten des Gespötts.
»Echt?«
»Ja. So ’ne bescheuerte rote Blume. Was wieder mal beweist, dass man die Leute nie kennt. Chase Singer, Mann. Wer weiß, was der Typ vorhatte? Lief doch alles bestens für ihn … Und jetzt ist er tot.«
Eine rote Blume. Eine rote Blume. Eine rote Blume. Em fummelte an ihrem Sandwich herum, um es wieder in die klebrige Frischhaltefolie einzuwickeln, und versuchte gleichzeitig, das wahnsinnige Rasen ihres Herzens zu unterdrücken. Die Mayo verschmierte ihre Finger. Fieberhaft versuchte sie sich einzureden, dass es mit der Blume alles Mögliche auf sich haben konnte – vielleicht war es ein Zufall oder bloß ein wildes Gerücht.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie es. Eine rote Blume. Genau so eine, wie sie an ihrer Handtasche gesteckt hatte – die Blume, die aus dem Nichts in ihrem Auto aufgetaucht war, als sie das erste Mal mit Zach rumgemacht hatte; die Blume, die immer wieder da war, sogar nachdem sie sie auf die Schienen geworfen hatte. Genau wie bei dem Band wusste sie, dass in Maine sicher viele rote Blumen verkauft wurden. Aber das waren mehr als bloße Zufälle. Das hatte sie im Gefühl. Sie musste herausfinden, was hier ablief. Mit wackligen Beinen stand sie auf. Sie musste hier raus.
Peng. Als sie sich umdrehte, knallte sie direkt in das Tablett von jemandem. Cola durchnässte ihr T-Shirt. Sie sah auf den Fleck hinab und ging einfach hastig weiter. Von Panik ergriffen.
Sie rannte den Flur entlang, nur weg von der Cafeteria und raus aus dem Gebäude. Auf dem Parkplatz wickelte sie ihren Schal fester um den Hals und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wo könnte sie Antworten finden? Und dann plötzlich, als hätte ihr jemand den Gedanken ins Ohr geflüstert, wusste sie genau, wo sie anfangen musste. Sie würde zu Chase nach Hause fahren.
Als sie an die Wohnwagentür klopfte, machte niemand auf. Nicht etwa, dass sie jemanden dort erwartet hätte. JD, der auf einmal intensiver ins soziale Netzwerk in Ascension eingebunden war als sie, hatte ihr gleich nach der kleinen Trauerfeier erzählt, dass Chases Mom sofort zu ihrer Mutter ins zwei Stunden entfernt gelegene Bangor gefahren war. Dort würde sie vorläufig bleiben.
Es war kein Problem für Em, eine der Fensterscheiben aufzuschieben, mit der behandschuhten Hand um die Ecke an den Riegel zu greifen und die Blechtür des Wohnwagens aufzudrücken. Sie quietschte beim Aufschwingen und gab den Blick auf ein nur schwach beleuchtetes Inneres frei.
Em trat zögernd einen Schritt hinein und rief noch einmal. Nur für alle Fälle. Keine Antwort. Sie wickelte ihren Schal vom Hals. Es war unerwartet warm. Sie befreite ihre Hände von den Handschuhen, einen Finger nach dem anderen, und versuchte, sich zu beruhigen. Es war still in dem Wohnwagen – und es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Chases Mom war ganz offensichtlich in Eile aufgebrochen. In der Spüle stapelten sich Teller, und das Essen, das noch daran klebte, hatte eine kleine Kolonie Kakerlaken angelockt. Em wandte sich ab. Jetzt, wo sie schon mal hier war, hatte sie nicht vor, einen Rückzieher zu machen. Der Couchtisch war mit Zeitungen übersät, daneben ein Haufen zerknüllter Papiertaschentücher und eine Packung Beruhigungspillen. Inmitten des Chaos lagen Trauergestecke und schwängerten die Luft mit ihrem schweren süßen Duft. Keinerlei blutrote Wunderblumen, stellte Em erleichtert fest. Aber Trauer. Überall Trauer, sie drang förmlich aus den Wänden und Em in die Knochen.
Sie war erst ein einziges Mal bei Chase zu Hause gewesen; an dem Abend, an dem er sich mit Zach geprügelt hatte, doch es war nicht schwer zu erraten, dass sein Zimmer weiter hinten im Flur sein musste. Die Räumlichkeiten waren nicht gerade weitläufig. In dem Zimmer am Ende des Ganges konnte Em ein Doppelbett mit geblümter Decke erkennen und daneben befand sich das Bad. Sonst gab es nur noch eine weitere Tür.
In Chases Zimmer zierten Patriots-Poster die Wände und ein paar Pokale aus falschem Gold
Weitere Kostenlose Bücher