Rache - 01 - Im Herzen die Rache
wünschte, wir wären uns nie begegnet.«
Damit begann sie, die Verstrebungen des Brückengeländers hinaufzuklettern. Es dauerte einen Augenblick, bis Chase registrierte, was sie da machte. Er wollte sie an der Schulter packen, griff jedoch nur ins Leere.
»Ty, halt. Komm da runter.« Panik durchfuhr ihn. »Was machst du da?«
Sie war jetzt auf der anderen Seite des Geländers, umfasste es mit den Händen und lehnte sich nach hinten über den Highway, als stünde sie auf einem Trapez. Nur ihre Zehenspitzen berührten noch die Brücke; ihre Fersen ragten schräg nach unten in die Nachtluft.
»Es ist vorbei, Chase.« Sie lächelte. Ein seltsames Lächeln, wie Chase nie zuvor eines gesehen hatte.
Plötzlich konnte er an nichts anderes mehr denken als an Sasha. Da oben auf dem Sims. Sie hatte niemanden gehabt, der hinter ihr stand, niemanden, der sie gebeten hatte, wieder zurück auf festen Boden zu kommen.
»Ty, bitte. Du machst mir echt Angst. Komm wieder hier rüber, dann können wir über alles reden. Komm schon.« Voller Panik streckte Chase die Hand nach ihr aus. Er wollte sie nicht wirklich packen; er befürchtete, sie über die Kante zu stoßen. Also versuchte er, seine Arme so kräftig und einladend wie möglich erscheinen zu lassen. Sie drehte sich seitwärts, hielt sich nur noch mit einer Hand und einem Fuß auf dem Sims. Sie schwankte ein bisschen, als würde ein Luftzug ausreichen, sie umzustoßen. Chase hörte einen Laut aus seinem Mund kommen, etwas, das sich eher nach einem winselnden Hund anhörte als nach einem menschlichen Wesen.
»Ty«, sagte er verzweifelt. Er war kurz davor zu weinen. »Ich flehe dich an, bitte. Es spielt keine Rolle, was du getan hast – ich will einfach nur, dass du wieder hier rüber kommst.«
»Oh, aber es spielt eine Rolle, Chase. Alles, was wir tun, spielt eine Rolle. Siehst du das denn nicht?«
In dem Schnee und der Dunkelheit war es schwer, etwas zu sehen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. Als Chase so dastand, mit ausgestreckten Armen, schien Ty plötzlich vor ihm zu schweben. Er blinzelte kurz, um mehr erkennen zu können. Und als er die Augen wieder richtig öffnete, war es gar nicht Ty, die da von der Brücke herunterhing. Es war Sasha.
Die Bilder von Sasha und Ty flimmerten hin und her, wie in einem alten Fernseher. Chase wurde von einer Furcht ergriffen, die größer war als alles, was er je empfunden hatte. Sasha -Ty – Sasha -Ty …
Oh Gott, was habe ich nur getan?
Und dann, als betrachtete er einen alten, verrauschten Horrorfilm in diesem flimmernden Fernseher, stürzte alles wieder auf ihn ein.
Er hatte ihr heimlich nachspioniert. Sie beobachtet und gewartet, ohne zu wissen, worauf er eigentlich wartete. Bis zum Beginn der elften Klasse, als sie im Footballteam gemeinsam beschlossen, sich Nacktfotos von verschiedenen Mädels aus der Schule zu beschaffen und sie auf einer geschützten Website zu posten, ganz exklusiv für das Team. Wer die meisten Bilder zusammenbekam, würde einen Preis gewinnen.
Chases Wahl war auf Sasha Bowlder gefallen.
Irgendwo tief in seinem Inneren wusste er, dass er nie über sie hinweggekommen war, über das Gefühl, zurückgewiesen zu werden, von einem Mädchen, das einmal seine beste Freundin gewesen war.
Er fing an, unter einem Nickname im Internet mit ihr zu flirten, in der Hoffnung, sie würde ihm ohne allzu großen Aufwand das Gewünschte schicken.
Zuerst war sie etwas zurückhaltend, doch mit der Zeit wurden ihre Chats intensiver. Tiefgründiger.
Manchmal denke ich daran, wie ich aufgewachsen bin, und frage mich, ob mich das stärker gemacht hat, schrieb sie eines Nachmittags. Kommt es dir nicht auch manchmal vor, als wäre alles nur Show, was sich da vor uns abspielt?, fragte sie ein anderes Mal. Und mit einem Ruck könnte man die ganze Maskerade herunterreißen?
Ungefähr nach einer Woche hatten die meisten anderen Jungs die ganze Sache vergessen.
Nicht aber Chase. Und er hörte nicht auf. Er machte weiter, wochenlang, monatelang. Komischerweise gefiel es ihm, sich mit Sasha zu unterhalten, mehr als mit sonst irgendwem. Sie ließ ihn nicht mehr los. In manchen Augenblicken vergaß er sogar, dass die Sache bloß ein Scherz sein sollte – und dass er sie dafür hasste, dass sie in der siebten Klasse so gemein zu ihm gewesen war.
Sie spürte es auch, was immer es war, was da zwischen ihnen passierte. Sie ließ ihn an sich heran. Erzählte ihm von ihren Ängsten. Ihren Träumen. Und von den
Weitere Kostenlose Bücher