Rache - 01 - Im Herzen die Rache
vor und sie küssten sich. Inniger noch als bei ihrem ersten Kuss. Er spürte elektrische Wellen durch seinen Körper strömen, abwechselnd heiß und kalt. Er hörte auf zu denken. Er löste eine Hand vom Geländer und streckte den Arm aus, um sie näher heranzuziehen. Sie wehrte sich kurz, bewegte sich von ihm fort.
»Es tut mir so leid«, hauchte er.
Und als er wieder einatmete, spürte er etwas in seinem Mund. Genauso wie beim Erwachen nach dem Traum, als es ihn auf der Zunge gekitzelt hatte, nur dass es sich jetzt wie ein ganzer Mundvoll Federn anfühlte, nicht nur wie eine einzelne. Er hustete und die zuckende Bewegung ließ ihn beinahe den festen Stand verlieren. Er würgte, musste spucken. Und eine rote Orchidee kam aus seinem Mund und landete in seiner Hand.
In diesem Augenblick erkannte Chase zwei Dinge, so deutlich, wie er noch nie in seinem Leben etwas vor sich gesehen hatte.
Das Erste war, dass Ty nicht auf dem Boden stand. Nicht einmal ihre Zehen berührten noch den kalten Asphalt der Brücke. Sie schwebte vor ihm, mitten in der Luft.
Das Zweite, weitaus schockierendere, war: Ty war überhaupt nicht schön. Ihr Körper war irgendwie transparent – grau und pergamentartig –, er konnte praktisch durch sie hindurchsehen. Ihr Haar sah ganz versengt aus. Ihre Lippen waren schwarz; ihre Augen zwei dunkle Höhlen.
»Reue ist manchmal nicht genug«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war wieder ganz ruhig. Wie ein schwarzer See bei Nacht – in dem alles Mögliche unter der Oberfläche lauerte.
Chase rang nach Luft. Er versuchte, von ihr wegzukommen, wusste jedoch nicht, wohin er seine Füße setzen sollte, so schmal war das Sims. Er stolperte und sein Schienbein knallte gegen den unteren Rand des Geländers.
Er versuchte krächzend, eine Frage hervorzubringen – Wer bist du, was bist du? –, doch es kam einfach nichts über seine Lippen, als er sie bewegte.
Dann blies sie ihm einen Kuss zu – es war nur ein winziger, sanfter Lufthauch. Aber er reichte aus, um ihn rückwärts taumeln zu lassen.
Und in diesem Moment überkam Chase seine dritte und letzte glasklare Erkenntnis: Er hielt sich nicht mehr länger am Geländer fest. Er befand sich im freien Fall – und unter ihm war nichts als der Highway.
In seinem Kopf war lediglich Raum für ein einziges letztes Wort:
Sasha.
D RITTER A KT B U ß E ODER D ER Z ORN DER F URIEN
Kapitel 19
Es gab eine sehr bescheidene Trauerfeier, die einem nichtssagend und heuchlerisch vorkam, so als würden die Leute es vermeiden, darüber zu sprechen, was wirklich passiert und was wirklich wichtig war. Em blieb nicht lange. Alles, was Chases Tod anbetraf und was danach passiert war, kam ihr seltsam vor. Sie ging nicht zu der Schulversammlung, die man kurzfristig einberufen hatte, um mit den Schülern über ihre emotionalen Reaktionen auf seinen tödlichen Sturz und Sashas Selbstmordversuch zu sprechen. Das Büro des Vertrauenslehrers vermittelte Trauerbegleiter, die den Schülern dabei helfen sollten, ihre Gefühle zu verarbeiten.
Man versuchte, das Richtige zu tun, doch Em wurde das Gefühl nicht los, dass all diese Erwachsenen genauso durcheinander waren wie die Jugendlichen. Sie überlegte, ob sie jemandem von Ty erzählen sollte, davon, dass Chase so verliebt in sie gewesen war; und von diesem mysteriösen Mädchen, das direkt bevor sich alles zu einer solchen Katastrophe ausgewachsen hatte, in Ascension aufgetaucht war. Doch sie wusste nicht, wem.
Es war noch keine Woche im neuen Jahr vergangen und schon brannte die Luft – und es war ein tödliches Feuer.
Sie gab sich zum Teil selbst die Schuld. Chase hatte sich verzweifelt angehört. Sie hatte es gewusst und sie hatte nicht alles unternommen, um ihn zu finden. Und jetzt … Jetzt war er tot. Sie musste dauernd an diese Nacht denken. Was hatte ihn bewegt? Seit seinem Tod hatte sie immer wieder die Mailbox abgehört, bis es sie fast wahnsinnig machte, seine Stimme zu hören, und sie die Nachricht kurz entschlossen löschte. Es ist etwas passiert, hatte er gesagt.
Aber was?
Seit Chases Tod hatte sie Albträume: die meisten davon ohne Handlung, voll von dunklen, herumwirbelnden Gebilden. Doch in der vorigen Nacht hatte der Albtraum Gestalt angenommen. Sie war mit dem Auto auf der verschneiten Straße unterwegs, es war dieselbe, auf der sie Meg begegnet war, dem Mädchen mit dem roten Band. Sie fuhr in Richtung Piss-Brücke und daran vorbei, zu Chase nach Hause. Sie konnte ihn aus der Entfernung sehen, am Ende
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