Rache - 01 - Im Herzen die Rache
eines Tunnels aus Schnee und Licht und den Zweigen der Bäume. Er rief etwas und schwenkte die Arme, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Alles, was sie wusste, war, dass etwas absolut nicht stimmte und dass sie es wieder in Ordnung bringen musste. Doch gerade als sie näher kam, nah genug, um ihn zu verstehen, tauchte Meg vor ihrem Wagen auf und sie musste eine Vollbremsung machen. Sie kam schleudernd zum Stehen, die Bremsen blockierten und sie flog in die Dunkelheit.
Em wachte auf und unterdrückte einen Schrei.
Irgendetwas an Chases Tod kam ihr absolut merkwürdig vor. Alle sagten, es sei Selbstmord gewesen – ihre Eltern, die Lehrer, jeder in der Schule. Und klar, es sah ja auch so aus. Aber irgendwas an diesem Abend – vor allem die Tatsache, dass Meg aufgetaucht war – stimmte nicht.
Em saß inzwischen am Küchentisch und rührte geistesabwesend in ihrem klumpigen Haferbrei. Sie hatte definitiv keinen Hunger, doch ihre Mom hatte ihr eine Nachricht auf den Tisch gelegt: Bitte iss etwas, Em. Wir haben dich lieb.
Und gerade als sie einen Löffel Haferbrei zum Mund führte, fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Mit einem Mal wusste sie, was an diesem Abend seltsam war. Während Megs Name ihr immer wieder durch den Kopf hämmerte, erinnerte sie sich plötzlich daran, wo sie ihn schon einmal gehört hatte: Als Chase von seinem neuen Schwarm erzählte. Sie hat zwei Cousinen, hatte er gesagt – Meg war eine davon. Und wie hieß noch mal die andere … es lag ihr auf der Zunge …
Der Löffel fiel klappernd auf den Tisch, als ihr der Name blitzartig durch den Kopf schoss. Ali. Das andere Mädchen hieß Ali. Und sie war ihnen beiden schon begegnet: Meg im Schnee und Ali im Zug. Das war kein Zufall. Da war sie sich sicher.
In der Mittagspause saß Em mit einem Truthahnsandwich an dem Tisch in der Cafeteria, der sich am nächsten bei den Mülltonnen befand. In den ersten paar Tagen nach den Ferien hatte sie in der Bibliothek gegessen, sich vor Gabbys fiesen Blicken versteckt und versucht, sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Heute war die Bibliothek jedoch für Mr Landons Oberstufenkurs in amerikanischer Geschichte reserviert. Er hatte sie ihres Zufluchtsortes beraubt. Also hatte Em beschlossen, es mit der Cafeteria zu versuchen.
Keine gute Idee. Gabby saß an ihrem gewohnten Tisch, mitten im Geschehen, und beriet sich mit Lauren über eine neue »Selbstmord-Präventions-Gruppe«, die sie gründen wollte. Sie schaute noch nicht einmal in Ems Richtung, genauso wenig wie Fiona, Lauren oder sonst irgendjemand aus ihrem Freundeskreis; Gabby hatte deutlich klargemacht, dass Em out war. Zach war schon seit Tagen nicht zur Schule gekommen, doch Em merkte – ein wenig überrascht –, dass sie sich zwar fragte, wie er wohl mit dem Tod seines besten Freundes zurechtkam, ihn selbst aber nicht wirklich vermisste. Die Art und Weise, wie er sich auf dem Fest benommen hatte, ließ einen nicht gerade vor Liebeskummer vergehen. Sie fragte sich allerdings, ob er bei der Schulversammlung, die in zwei Tagen stattfinden sollte, zum Anfeuern für das Basketballteam auftauchen würde. Er war schließlich einer der besten Spieler in Ascension – er musste eigentlich dabei sein.
Sollte so etwa der Rest ihrer Highschool-Laufbahn aussehen? Keine Freundinnen, kein Freund, keinen blassen Schimmer, wie sie Gabby oder den Leuten in ihrem Schlepptau erklären sollte, was passiert war. Wenn sie und JD doch bloß zur selben Zeit Mittagspause gehabt hätten. Doch er war jetzt gerade in seinem Chemie-Leistungskurs.
»Ich glaube, Singer war schwul«, sagte jemand ein bisschen zu laut.
Als Chases Name fiel, horchte Em auf. Sie sah sich nach demjenigen um, der ihn ausgesprochen hatte. Zwei Tische weiter hockte eine Gruppe Footballspieler zusammen. Sie hatten ihr Mittagessen – tablettweise Pommes und Hackbällchen-Sandwiches – kreuz und quer vor sich aufgebaut, mampften große Bissen und spuckten hemmungslos die Krümel durch die Gegend. Wie alle anderen an der Ascension tauschten sie ihre Theorien über Chase aus.
»Was meinst du, hatte er Schiss, sich zu outen?«, kam es von einem Zehntklässler, der, so glaubte Em sich zu erinnern, Charlie hieß.
»Ja, wahrscheinlich. Ich meine, diese Fotos von ihm – die Farbe und das ganze Zeug? Und diese Gedichte? Voll Brokeback Mountain. « Es war Erbsenhirn Sean Wagner, der da sprach. Em drehte sich vor Ekel der Magen um. Wieso existierte der überhaupt? Er hatte der Welt
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