Rache - 01 - Im Herzen die Rache
stand ein Gedicht und Em erkannte die Worte wieder, die auf der Ascension-High-Facebookseite gepostet worden waren: Bin nicht hübsch, ich weiß, und gewöhnlich noch dazu. Doch durch dich fühl ich mich schön, denn ich bin wie du. Auch an diese Mail hatte sie ein Foto angehängt, ein edles, sepia getöntes Bild, auf dem sie starr in die Kamera blickte. Ihre nackten Schultern waren darauf zu sehen. Emily schauderte; Sasha wirkte so verletzlich.
Sie gestand, wie einsam sie war, dass sie nicht verstand, warum niemand – außer Drea – sie mochte. Was mir echt Angst macht, schrieb sie, ist, dass ich nicht weiß, ob ich Drea nicht vielleicht fallen ließe, wenn die coolen Leute wieder mit mir befreundet sein wollten.
Das würdest du, antwortete Chase. Genau so läuft das.
Nach zwei Monaten hatte sich das mit der Heimlichtuerei verbraucht. Sasha wollte mehr. Ich will wirklich wissen, wer du bist. Ich muss dich sehen. Können wir uns treffen? Ihr Tonfall wurde eindringlicher. Sie schrieb ihm, sie hätte angefangen, Sport zu machen, um hoffentlich »scharf für dich auszusehen, wenn wir endlich zusammen sind«. Chase hatte sie abblitzen lassen. Wozu treffen? Dann ist ja das ganze Geheimnis futsch. Und als er ihr das nächste Mal gemailt hatte, hörte sie sich irgendwie kleinmütiger an. Ich frage mich langsam, ob sich das alles bloß in meinem Kopf abspielt, schrieb sie. Anschließend nichts, eine ganze Woche lang, bis auf Chases E-Mails an sie. Hallo? Hey, was ist los mit dir? Ich hab langsam das Gefühl, du magst mich nicht mehr …; )
Dann die letzte Mail von Sasha, in der sie die Sache beendete. Eiskalt.
Und kurz darauf tauchten ihre Fotos auf Facebook auf. Es war Chase. Chase hatte sich erst Sashas Vertrauen erschlichen und es dann missbraucht.
Genauso wie Ty es mit ihm gemacht hatte.
Oh mein Gott. Chase war exakt auf dieselbe Weise gestorben, wie es bei Sasha beinahe passiert wäre. Die Erkenntnis stürzte förmlich auf sie ein, donnernd und bedrohlich. Ihre Arme begannen zu kribbeln und ihre Atmung beschleunigte sich. Chase. Ty. Sasha. Ihre Schicksale waren fast identisch. Beide waren sie bloßgestellt worden, wenn auch auf verschiedene Art und Weise. Was hatte Chase an diesem Tag in der alten Turnhalle noch mal gesagt? An dem Tag, an dem er starb? Vielleicht stimmt es ja, dass jeder irgendwann das kriegt, was er verdient.
Mit brennenden Tränen in den Augen verließ Em Chases Zimmer und ging durch den Flur zurück. Sie bekam das Bild der roten Blume nicht mehr aus dem Kopf. Wenn das, was Chase ereilt hatte, Vorsehung war, dann wagte sie gar nicht darüber nachzudenken, was das für sie bedeutete.
Eine Viertelstunde später war sie mit dem Wagen rechts rangefahren und versuchte, zu Atem zu kommen. Ihre Handflächen schwitzten. Sie hatte zu viel Angst, um zu weinen, fror zu sehr, um zu zittern. Seltsame Cousinen. Tod. Vertrauensbruch. Vergeltung, offensichtlich perfekt geplant. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, von alldem – Sasha war auf jeden Fall das fehlende Glied, der erste Dominostein, der Schrei, der die Lawine ausgelöst hatte. All diese unheimlichen Dinge waren erst nach Sashas Selbstmordversuch passiert. Sie war der Schlüssel, da war Em sich ganz sicher.
Kapitel 20
Es war erst fünf Uhr nachmittags, als Em zum Krankenhaus fuhr, doch es hätte ebenso gut auch schon Mitternacht sein können. Die Sonne war bereits untergegangen und die Straßen lagen im Dunkeln. An jeder Biegung dachte Em, gleich würde jemand vor ihr auf die Fahrbahn stolpern – Ali, dieses blonde Mädchen mit dem kalten, leeren Blick aus Boston, das anscheinend ständig lachte. Oder Meg, das Mädchen von der Straße, das zurückkam, um sein rotes Band zu holen.
Bei jeder noch so kleinen Bewegung trat Em auf die Bremse: wenn der Wind in den blätterlosen Bäumen rauschte; wenn ein Hirsch zur Seite sprang, den weißen Schwanz als Fluchtsignal in die Höhe gestellt. Sie merkte, dass sie seit Wochen kaum geschlafen hatte. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren.
Das Klingeln ihres Handys zerrte noch zusätzlich an ihren Nerven. Sie warf einen Blick auf das Display. Es war ihre Mom.
»Hallo, Mom.« Em versuchte, ihre Stimme auf einem heiteren Level zu halten. Sie war kurz davor, ihrer Mom alles zu erzählen, einfach am Straßenrand anzuhalten, zusammenzubrechen und ihr das Herz auszuschütten.
»Hallo, mein Schatz«, sagte ihre Mom mit leicht besorgtem
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