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Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers

Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers

Titel: Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schmidt
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ich war mir sehr sicher, dass sie zu meinen Gunsten eingeschritten wäre. Das Küchenpersonal wurde inzwischen auf den Gast aufmerksam, der sich jetzt zur Toilette bemühte. Als er hinter dem 00 verschwunden war, hörte ich lautes Gelächter. Ich sollte doch Mut beweisen und diese Schmeißfliege von Gast an die frische Luft befördern. »Wir halten dicht, wenn die Pallhuber wieder im Amt ist!«, rief der Koch, grinste und steckte dabei seine riesige Kopfmontur aus der Küchendurchreiche. Jetzt erschien er im Gastraum, bewaffnet mit einem Schrubber, öffnete damit geschickt den Glasdeckel des Chronometers und drehte mit dem Schrubberstiel den Zeiger der Uhr um eine dreiviertel Stunde nach vorn und verschwand. Inzwischen war der Gast wieder am Tisch. Scheinheilig empfahl ich Gerichte, die gar nicht auf der Karte standen, doch plötzlich blickte der Gast auf die Wanduhr im Lokal und dann wieder auf seine Armbanduhr. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bestätigte mit Nachdruck, dass es auf dem Chronometer beinahe 12.45 Uhr sei. Natürlich war das keine Lüge – diese Zeit wurde, wenn auch manipuliert, dort tatsächlich angezeigt. Der lästige Gast war jetzt sichtlich unsicher, allerdings glaubte er nicht fest daran, dass die Zeit während seiner Toilette so immens fortschritten war. Seinen Mantel in Eile unter den Arm geklemmt, vergaß er Bier und Korn. Ich erinnerte ihn mit Nachdruck an die Zeche von 4,20 DM. In der Eile schmiss er einen Hunderter auf den Tisch, den er mit einem blauen Zehner verwechselt hatte. »Mein Herr«, sagte ich, »mit dem Kleingeld sieht es trübe aus!« Ich hatte wirklich keine 5,80 DM in der Kasse. In diesem Moment griff der Gast nach dem Geldschein und sagte, dass er den Zehner wechseln wolle. »Nein, nein!«, erwiderte ich geistesgegenwärtig, »ist gut gemeint – jetzt haben Sie meinetwegen ein Problem mit der Uhrzeit, weil kein Wechselgeld in der Kasse ist. Ich griff in mein eigenes Portemonnaie und gab freundlich lächelnd sechs DM in Zweimarkstücken heraus. »Stimmt so«, sagte ich, »heute bekommen Sie das Trinkgeld!« Der Gast ließ die Münzen in die Manteltasche gleiten und verschwand mit einem Koffer aus dem Lokal. Unter allen Umständen wollte ich vermeiden, diesem »Gönner« noch einmal unter die Augen zu treten und raste mit dem zweiten Koffer hinterher. »Ach übrigens, Ihre Uhr geht falsch!«, meinte der Herr. »Ach was!«, erwiderte ich, »für Reklamationen ist es jetzt zu spät – hier ist Ihr Koffer!« Ich ließ die Gaststättentür offen und lief im Laufschritt zurück. Der vor Sekunden geräumte Tisch war trotz der Unordnung schon wieder in Beschlag genommen. Der neue Gast war eigenartigerweise das Ebenbild seines Vorgängers, rein äußerlich. Es bestand der Unterschied, dass im Mundwinkel dieses Herrn eine Zigarette steckte. Dieses Mal bat ich höflich darauf zu achten, dass das Rauchen um die Mittagszeit untersagt ist. In Windeseile entledigte sich der Gast dieser Zigarette. Er zerrebelte sie über einem Ascher und nahm gleich im Trenchcoat Platz. Im Nacken des Gastes saß eine braune Baskenmütze. »Oh«, sagte ich, »Sie haben ‘s wohl sehr eilig?« »Ja, natürlich, aber für ‘n steifen Grog reicht die Zeit noch!«, gab der Herr zur Antwort. Nach einer Weile erhob er sich wieder vom Platz, knöpfte seinen Mantel auf und hängte ihn an den Haken. Seine Baskenmütze stopfte er in eine Manteltasche und nahm wieder Platz. Dann kramte er seine Zigaretten heraus, ließ sie aber gleich wieder verschwinden. Ich brachte den Grog und machte darauf aufmerksam, dass die Gaststättenuhr mit den Uhren auf den Bahnsteigen synchron geschaltet sei. Der Herr bedankte sich und bestellte noch einmal das Gleiche und das im Sommer bei dreißig Grad im Schatten. »Festlich gekleidet!«, bemerkte ich eher abwesend, um nicht den Eindruck notorischer Neugier zu erwecken. »Ach ja, ich heirate zum dritten Mal, junger Mann. Nicht dass Sie denken, ich sei ein Hallodri – nun muss etwas daraus werden!« Da saß kein Hallodri am Tisch No. 7, sondern eher ein Lebemann fortgeschrittenen Alters, für den alle Züge nicht nur abgefahren, sondern entgleist waren. Nun setzte er sein Gespräch mit mir fort. Ich ahnte, dass er sich festtrinken würde, sozusagen: »Bisher wurde ich regelrecht vom Pech verfolgt. Meine neue Flamme setzt große Erwartungen in mich. Dieser Tatsache werde ich während meines restlichen Daseins Rechnung tragen!« Ich brachte den zweiten Grog. Weil der Mann einen

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