Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
die Hochzeit gewesen, um seine Tochter vor Hadda zu schützen, sondern um Hadda vor seiner Tochter zu schützen, und indirekt auch vor seiner Frau.
Es war also wirklich nicht viel. Aber es bedeutete, dass sie sich das, was Wolf geschrieben hatte, noch einmal anschauen musste. Und sie musste einräumen, dass ihre eigene kurze Begegnung mit den beiden Ulphingstone-Frauen bei ihr ein gewisses Verständnis für die Sichtweise des alten Mannes geweckt hatte.
Und jetzt war die Klarheit ihrer ursprünglichen Interpretation und Analyse fragwürdig geworden. Das Ganze ähnelte mehr und mehr einem von diesen Bildern, in denen ein kleiner Perspektivwechsel eine Gans in ein Kaninchen verwandelt. Es war alles eine Frage des Blickwinkels. Ursprünglich hatte sie einen Pädophilen wahrgenommen, dem nach anfänglicher Verdrängung allmählich seine Taten bewusst werden. Aber wenn man diese Wahrnehmung veränderte und einen Unschuldigen sah, der allmählich begreift, dass seine einzige Chance auf vorzeitige Entlassung darin besteht, diesen Prozess vorzuspielen, dann ergab alles plötzlich sehr viel mehr Sinn.
Sie dachte an die Anfänge ihrer Beziehung zu Hadda zurück. An ihre Freude, als er ihr den ersten Teil seiner Niederschrift gegeben hatte. Sie hatte die rasante Beschreibung der Ereignisse, die zu seinem Unfall führten, als klaren Beleg dafür gedeutet, dass er noch immer verdrängte. Niemals, nicht eine Sekunde lang, hatte sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, er könnte tatsächlich die reine Wahrheit geschrieben haben.
Und sie hatte sich ihre Skepsis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anmerken lassen.
Sie erinnerte sich an die Art, wie er sie angesehen hatte, ehe er das zweite Schulheft hervorholte, die Beschreibung des Erwachens aus dem Koma.
Sie hatte das als großen Fortschritt gedeutet. Und vielleicht hatte Hadda gewollt, dass sie das genau so sah. Aber nur falls ihre Reaktion auf den ersten Teil ihm verraten hatte, dass keine Hoffnung bestand, sie von seiner Unschuld überzeugen zu können.
Nachdem er diesen Weg einmal eingeschlagen hatte, gab es kein Zurück mehr. Er hatte seine Rolle perfekt gespielt, hatte seinen Text so geschrieben und gesprochen, dass sie der Überzeugung war, sie würde ihn gegen seinen Willen dazu bringen, sich seinem Brockengespenst zu stellen. Dabei hatte er sie die ganze Zeit dorthin geführt, wo er sie haben wollte, und sie war ihm bereitwillig gefolgt …
Sie konnte es nicht glauben, sie wollte es nicht glauben. Wie hatte sie, der Profi, sich so täuschen lassen können … von einem Holzfäller ! Wie hatte er gewusst, welche Knöpfe er drücken musste?
Dann fiel ihr ein, dass sie im Schlafzimmer in Birkstane ein Exemplar von Seelen heilen entdeckt hatte, und wie hastig er es ihr weggenommen hatte.
Warum? Vielleicht weil das Buch voll mit seinen Randnotizen war.
Der Saukerl hatte ihr eigenes Buch benutzt, um sich in ihren Kopf zu schleichen, in ihre beruflichen Denkprozesse!
Aber warum, verdammt noch mal, war sie so stinksauer bei dem Gedanken, dass dieser Mann, für den sie etwas empfand, auch wenn sie noch nicht genau wusste, was, die widerwärtigen Verbrechen, für die er verurteilt worden war, vielleicht gar nicht begangen hatte? War seine Unschuld nicht mehr als genug Entschädigung für die Tatsache, dass er sie ausgetrickst hatte?
Denkbar war natürlich auch, dass er einfach noch gerissener und manipulativer war als der durchschnittliche Kinderschänder.
Alva schüttelte wütend den Kopf.
Sie musste sich diesen ganzen persönlichen Kram aus dem Kopf schlagen. Sie war Psychiaterin, und ihr Interesse an der Sache war rein professionell. Doch noch während sie sich das einredete, wusste sie, dass sie nicht professionell handeln würde. Denn das hätte bedeutet, ihre Überlegungen den zuständigen Behörden vorzutragen – dem Bewährungsdienst und/oder der Polizei. Und falls sie ernsthaft Grund zu der Annahme hatte, ein Patient plane möglicherweise ein Verbrechen, blieb ihr natürlich keine andere Wahl.
Aber, so beruhigte sie sich, du hast keinen Grund zu der Annahme! Wenn überhaupt, ziehst du allmählich die Möglichkeit in Erwägung, dein Patient könnte Opfer eines Verbrechens sein.
Okay, antwortete sie sich selbst, dann solltest du die Sache zumindest mit jemandem besprechen, dessen sachkundige Meinung du respektierst.
Zum Beispiel?
Normalerweise hätte ihr Vater ganz oben auf der Liste gestanden, aber nicht in seinem derzeitigen Zustand. Er
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