Racheakt
das so immens wichtig ist, dass man sich kurz nach Mitternacht noch deshalb gegenseitig aus dem Schlaf klingeln muss, schlägt mir das geballte Unverständnis der Jugend entgegen und ich werde mit genervtem Seufzen abgestraft.«
»Gott sei Dank liegt das ja nun hinter uns!«
»Ja – aber ist es nicht auch seltsam ruhig, wenn alle Kinder das Haus verlassen haben? Wenn mitten in der Nacht bei uns das Telefon plötzlich losklingelt, schrecke ich jedes Mal alarmiert hoch. Mein Herz rast, Adrenalin springt auf Einsatzhöhe – und dann ist es Sofie, die – ohne Rücksicht auf die anderen Mitbewohner der Behausung – nur schnell anrufen wollte, um zu erzählen, dass die coolen Schuhe, die sie letzte Woche gekauft hat, ganz fantastisch zu der neuen Hose passen, die sie zusammen mit Jule am Nachmittag erstanden hat! Und deshalb ruft sie gegen zwei Uhr morgens bei ihrer besten Freundin an! Meine Nacht ist dann natürlich vorbei. Aber wenn bei euch nun das Telefon klingelt, ist es auch für euch. Fast ein bisschen langweilig, oder?«
Der Kollege grunzte.
»Nee, ich glaube wir sind noch in der Phase des Genießens.«
»Da dachte ich, jetzt werden die Nächte wieder ruhig, als endlich alle Zähne da waren und Jule wieder durchschlief. Wie konnte ich ahnen, dass das mit Einsetzen der Pubertät wieder von vorne losgeht!«
»Ja, das steht in keinem der schlauen Handbücher über Familienplanung. Die lassen einen in dem Glauben, dass Kinder nur in den ersten Monaten ihres Lebens nachtaktiv seien. Ha!« Albrecht Skorubski machte eine wegwerfende Handbewegung um seine Verachtung für solche Ratgeber zu unterstreichen. »Aber wir waren wenigstens immer zu zweit – und du musst mit deiner Jule ganz allein klarkommen. Hast du eigentlich mal wieder was von Birgit gehört?«
»Nicht wirklich«, Peter Nachtigall sprach nur sehr ungern über seine Exfrau. Nach dreizehn Jahren Ehe hatte sie sich entschlossen, ihrem Leben eine ganz neue Richtung zu geben. Sie hatte auf einem Kongress für Geologen einen jungen Norweger kennen gelernt, der zunächst von ihren Forschungsergebnissen begeistert zu sein schien und sich immer wieder mit ihr über Vulkanismus und Tektonik unterhalten wollte. Doch schon bald wurden die Gespräche wohl privater und eines Tages überraschte Birgit ihren Mann damit, dass sie zu Forschungszwecken nach Norwegen reisen müsse. Es könne durchaus länger dauern.
Sie kehrte von dort allerdings nur noch einmal zurück – an dem Tag, an dem sie von Peter Nachtigall geschieden wurde. Jule blieb in Deutschland, um die Schule beenden zu können. Seither lebte er mit seiner Tochter allein. Birgit hielt locker Kontakt zu ihr und Jule besuchte sie auch von Zeit zu Zeit in Norwegen. Doch in den letzten Jahren schienen die beiden Frauen sich eher aus dem Weg zu gehen. Jule kam besser mit Sabine aus, Peter Nachtigalls kleiner Schwester, und verbrachte oft das Wochenende bei ihr und ihrer Familie.
»Da ist es«, unterbrach Albrecht Skorubski die Gedankengänge des Kollegen. Sie hielten vor einem der vielen Wohnblocks in der Hallenserstraße. Trist sahen die grauen Riesen im kalten Licht des beginnenden Winters aus. »Wenigstens können die Leute hinten raus auf den Brunschwigpark sehen«, murmelte Peter Nachtigall und versuchte den richtigen Hauseingang zu finden.
Sphärisches Rauschen aus der Gegensprechanlage gefolgt von einem lauten Summton und sie wurden eingelassen.
Fröstelnd zog Nachtigall seine Schultern hoch. Die Flurbeleuchtung ließ sich nicht einschalten, das Treppenhaus blieb im schattenreichen Halbdunkel. Kinderwagen standen abgestellt in Nischen, es roch beißend nach Urin, alles wirkte ziemlich schmuddelig. Irgendwo briet jemand Zwiebeln und aus der linken Parterrewohnung quoll ihnen Kohlgeruch entgegen. Langsam stiegen sie die Treppe hoch. Irgendwo weinte ein Kind. Hinter einer anderen Tür wurde heftig gestritten, eine Mädchenstimme überschlug sich schrill, ein Telefon klingelte.
Im vierten Stock wurde unvermittelt eine Tür aufgerissen. Rockige Weihnachtsmusik drang in den Flur und warmes Licht fiel auf den Treppenabsatz. In der geöffneten Tür stand eine sehr junge, schlanke Frau, mit einem modischen Kurzhaarschnitt. Sie trug enge Jeans, zeigte viel Bauch und einen gepiercten Bauchnabel. »Meine Mutter meinte, Sie wollten sicher zu mir – wegen Anna. Ich bin Laura Hellberg«, die Stimme war kindlich und die Bewegungen, mit denen sie die Ermittler zum Betreten der Wohnung einlud, linkisch.
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