Racheakt
Wort betonend. »Wir haben zum Glück keine Leiche – es geht um Ihre Tante Erna Salzkorn. Sie ist vorhin schreiend aufgewacht – vermutlich hatte sie einen Albtraum. Und jetzt will sie nicht eher wieder Ruhe geben, bis sie ihren Neffen von der Kripo gesprochen hat«, erklärte der junge Mann etwas eingeschüchtert durch Nachtigalls unfreundlichen Ton.
Schwer ließ sich der Hauptkommissar wieder auf die Bettkante plumpsen und gab seine ungeschickten Bemühungen auf sich einhändig der Pyjamahose zu entledigen.
Klar! Abendlust war der Name des Pflegeheims, in dem seine Tante seit ein paar Wochen untergebracht war! Wie hatte er das nur vergessen können, wo er sich doch noch so über diesen albernen Namen lustig gemacht hatte. Ein Pflegeheim für lüsterne Senioren, so hatte er zu seiner Schwester gesagt. Bist du sicher, dass wir Tante Erna da unterbringen sollten? Doch seine Schwester hatte ihm nur diesen Blick zugeworfen, den er schon aus den Zeiten kannte, als sie noch gemeinsam im Sandkasten gesessen hatten. Diesen »Halt die Klappe oder ich trete dir vors Schienbein« Blick. Widerstand war demnach völlig zwecklos und so »durfte« Tante Erna schon einen Tag später dort einziehen.
»Warum haben Sie nicht meine Schwester angerufen? Wir haben doch ausdrücklich ihre Nummer für diese Art Notfälle hinterlassen.«
»Sie will aber Sie sehen! Sie behauptet, dass jemand in ihrem Zimmer war und versuchen wollte sie umzubringen.« Die Verzweiflung war nun aus der Stimme des Pflegers herauszuhören und plötzlich war Peter Nachtigalls Ärger verraucht. Der arme Mann hatte schließlich keine Chance gegen Tante Erna. Niemand hatte das. Tante Erna bekam immer, was sie wollte. Wahrscheinlich war ihre gellende Stimme, mit der sie forderte, dass man ihren Neffen verständige, über alle Flure des Heims zu hören – und sie würde erst damit aufhören zu rufen, wenn Jan-Hendrik ihr glaubhaft versichern konnte, der Neffe sei auf dem Weg zu ihr. »Ich komme, so schnell ich kann.«
Die alte Dame saß hoch aufgerichtet in ihrem Bett und umklammerte mit ihren runzligen Händen die Gitter, die beidseitig am Bett angebracht waren. Ihre wachen Augen behielten die Tür fest im Blick und als es klopfte, antwortete sie mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Peter Nachtigall hatte sich wirklich beeilt.
»Ach, Peterchen!«, begrüßte ihn Tante Erna erleichtert. »Wie gut, dass du gekommen bist.«
»Aber, das ist doch Ehrensache!« Mit zwei raschen Schritten hatte er ihr Bett erreicht, hauchte ihr einen Begrüßungskuss auf die trockene Wange und zog sich den Stuhl für Besucher neben das Bett.
Missbilligend zog Tante Erna eine Augenbraue hoch.
»Aber sag mal – wie siehst du denn aus? Konntest du dir nicht ein frisches Hemd anziehen und dich wenigstens rasieren? Zu meiner Zeit wäre ein Herr niemals so ungepflegt im Schlafzimmer einer Dame erschienen«, tadelte sie ihren Neffen und Peter Nachtigall spürte das belustigte Lächeln des Pflegers in seinem Rücken, als dieser die Tür schloss und mit eiligen, quietschenden Schritten zu einem anderen Zimmer hastete, aus dem nach ihm geklingelt wurde.
»Es ist mitten in der Nacht. Du hast mich wecken lassen – und hier bin ich! Da musst du eben über Schönheitsfehler hinwegsehen.«
Die alte Dame grinste schelmisch und zwinkerte ihrem Neffen verschwörerisch zu, als er sich neben das Bett setzte.
»Uns beide muss man wohl so nehmen, wie wir sind, Peterchen, was?«
Vorsichtig hob der Hauptkommissar die klauenartige Hand vom Gitter und legte sie zwischen seine beiden Handflächen, als wolle er sie wärmen. Dabei warf er einen besorgten Blick auf die zierliche Gestalt unter der Decke. Tante Erna war trotz ihres Alters, immerhin wurde sie im nächsten Jahr 84, stets selbstständig gewesen – bis dieser Sturz vor ein paar Wochen sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Die alte Dame würde viel Pflege benötigen, meinten die Ärzte und rieten zu einer Unterbringung im Heim. Sollte sich ihr Zustand überraschend bessern, so konnte man sie immer noch wieder in ihre Wohnung zurückkehren lassen. Doch bei einer Besichtigung der Wohnung wurde allen klar, dass Tante Erna ihre privaten Belange schon länger nicht mehr wirklich regeln konnte. Alles starrte vor Schmutz, verdorbene Lebensmittel stanken im Kühlschrank, das Brot war verschimmelt und die verordneten Medikamente gegen Diabetes und Hochdruck lagen unausgepackt in einer Ecke des Vorratsschranks. »Na, stell dir nur vor, Peterchen«,
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