Racheakt
fühlte sich vernachlässigt und benötigte unbedingt etwas geistige Anregung, damit sie sich nicht ganz im Reich der Fantasie verlor. Hier waren seine Schwester und Jule gefordert.
Nachdem er auch noch die Verriegelung des Fensters kontrolliert und Schrank sowie Schubladen untersucht hatte, verabschiedete er sich liebevoll.
Zufrieden lehnte sich Tante Erna in die Kissen zurück.
»Jan-Hendrik, darf ich Sie mal kurz stören?«
Der Pfleger, der über seiner Lektüre eingenickt war, zuckte ertappt zusammen und versuchte mit fahrigen Bewegungen den Krimi verschwinden zu lassen, in dem er gelesen hatte.
Puterrot nickte er Peter Nachtigall zu.
»Ist es Ihrer Meinung nach denkbar, dass ein Unbefugter sich Zutritt zum Zimmer meiner Tante verschaffen konnte?«
»Von draußen kommt niemand einfach so hier herein. Die Tür fällt ins Schloss, wenn jemand das Haus betritt oder verlässt und sie ist nur durch meine Freigabe wieder zu öffnen. Das heißt, ich muss einen Summer betätigen, der die Tür freigibt. Das ist wichtig, zur Sicherheit unserer verwirrten Patienten, die sonst das Gebäude unbemerkt verlassen könnten und vielleicht orientierungslos umherirren würden. Womöglich kämen sie unter ein Auto …«, erklärte Jan-Hendrik immer noch verlegen.
»Wenn demnach jemand im Zimmer meiner Tante gewesen wäre, müsste er entweder auch zu Patienten oder Personal gehören – oder er hätte sich hier verbergen müssen und müsste nun in seinem Versteck warten, bis er morgen unauffällig mit jemand anderem das Gebäude verlassen könnte.«
»Ja. Aber so einfach ist das auch wieder nicht. Ich sehe ja auf dem Überwachungsmonitor wer kommt und geht.«
Nachtigall beugte sich weiter in den Raum und fragte verblüfft: »Welchen Monitor meinen Sie?«
Jan-Hendrik nutzte die nächste halbe Stunde, Peter Nachtigall eingehend in das Sicherheitssystem einzuführen. Leutselig nahm der Kommissar am Tisch im Schwesternzimmer Platz und Jan-Hendrik goss für beide Kaffee in große Henkeltassen.
»Sie glauben also nicht an einen realen Eindringling?«
»Nein, eher nicht. Aber ich muss den Vorfall ohnehin morgen melden – und da werde ich mal bei ihren Zimmernachbarn nach Träumen fragen. Vielleicht ist einer von denen im Schlaf oder Halbschlaf über den Gang gelaufen, hat sich im Zimmer geirrt …Ich werde vorsichtige Erkundigungen einziehen«, versprach der Pfleger und nickte dabei entschlossen.
Als Peter Nachtigall das Haus verließ, ging die Beleuchtung im Türbereich an. Er drehte sich um und entdeckte die kleine Kamera, die sein Bild nun zu Jan-Hendrik senden würde. Freundlich winkte er dem kalten, schimmernden Auge zu und fuhr nach Hause zurück.
12
4. November
»Na, war dein Hochzeitstag ein Erfolg?«, wollte Peter Nachtigall von seinem Partner wissen, als er das Auto vor dem Reha-Zentrum parkte.
»Ach, ja. Du weißt schon. Wir haben uns eine Reise nach Bahrain geschenkt. Die machen wir im nächsten Herbst, wenn es dort nicht mehr so heiß ist. Die Kinder haben sich an den Kosten beteiligt – so wird es wohl ein etwas luxuriöserer Aufenthalt, als wir dachten. Und dann so das Übliche. Essen mit allen, danach ins Kino. War eigentlich ganz entspannt.«
»Nun sieh dir das an! Es schneit!«, schimpfte Peter Nachtigall, der sich nur im Hochsommer so richtig wohl fühlte.
»So früh im November! Na, ja. Dann wird es wohl wieder nichts mit Schnee zu Weihnachten«, prophezeite Skorubski.
Als es unerwartet an der Haustür klingelte, zuckte Dr. Helge Jung heftig zusammen. Freitagvormittags war ihre Praxis geschlossen. Sie nutzte diese Zeit für ihre Gutachtertätigkeit bei Gericht und wurde nun aus ihren Überlegungen gerissen.
Ärgerlich warf sie einen Blick auf die Uhr, schloss die Akte und arbeitete sich hinter ihrem Schreibtisch vor. Misstrauisch sah sie aus dem Küchenfenster zum Gartentor, um zu sehen, wer sie gestört hatte. Dort standen zwei Herren mittleren Alters, einer ganz in Schwarz, der andere in ein buntes Allerlei gekleidet. Wieder klingelte es. Wütend lief die große Frau in den Flur und wunderte sich im Geheimen darüber, dass Staubsaugervertreter oder Versicherungsagenten jetzt schon die Leute im Doppelpack belästigten. Der Summer neben der Haustür öffnete das Tor und Frau Dr. Jung trat den ungebetenen Besuchern auf dem Gartenweg entgegen.
»Ja, bitte?«, fragte sie in arktischem Ton, der perfekt zu den Herbsttemperaturen und dem leichten Schneegeriesel passte.
»Entschuldigen Sie
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