Racheakt
Therapie gesprochen. Da müssten Sie doch jetzt wissen, dass ich eine solch schreckliche Tat niemals begangen haben kann – ich bin nicht mehr der, der ich mal war. Jeder Mensch kann sich doch grundlegend geändert haben in so vielen Jahren. Warum wollen Sie mir das nicht auch zubilligen.«
Der flehende Blick in seinen Augen erreichte bei Peter Nachtigall nichts. Sein Bauchgefühl, das ihn an Graberts Unschuld glauben lassen wollte, war in diesem Fall nicht ausreichend. Sie mussten sicher sein. Schließlich wollten sie nicht das Risiko eingehen einen brutalen Mörder wieder auf freien Fuß zu setzen.
»Gut. Ich weiß von der Therapie – aber das macht Sie nicht wirklich unverdächtig. Wir konnten Ihren Hausarzt nicht erreichen, aber das holen wir nach. Ich räume gerne auch ein, dass Menschen sich verändern – zum Glück tun sie das. Aber ich weiß auch, dass dieses Medikament, das Sie da bekommen, Sie nicht unbedingt so ruhig und sexuell bedürfnislos gemacht haben muss, wie Sie es darstellen.«
»Vielleicht hat mich ja doch jemand gesehen – vom Klinikpersonal vielleicht oder einer von den Nachbarn. Haben Sie die denn schon alle befragt?«
»Wir haben jemanden hingeschickt, der genau das überprüfen soll, aber bisher haben wir noch keine Zeugenaussagen für den relevanten Zeitraum. Arbeiten Sie eigentlich noch woanders? In Ihrer Freizeit?«
»Nein, nur in der Klinik. Für mehr bleibt gar keine Zeit. Sie haben keine Zeugen gefunden – aber das heißt doch nur, dass ich kein bestätigtes Alibi habe und nicht, dass ich der Täter sein muss. Wie viele Leute in und um Cottbus mögen wohl für den, wie Sie das nennen, relevanten Zeitraum kein Alibi haben? Ist Cottbus deshalb eine Stadt voller gemeingefährlicher Verbrecher und Mörder, Herr Hauptkommissar?« Günter Graberts Augen blitzten, als er den Ermittler nun direkt ansah.
»Aber nur einer von denen hat schon einmal eine ganz ähnlich inszenierte Tat begangen und wurde dafür verurteilt. Außerdem hat von den anderen vermutlich auch keiner schon mit gepackter Tasche auf uns gewartet!«, hielt Peter Nachtigall dagegen.
»Ich wusste doch, dass die Polizei kommen würde – und ich hatte Recht. Klar wusste ich, dass man die Akte von damals im PC ausfindig machen kann – schließlich sehe ich mir auch gern Krimis im Fernsehen an – und mir war auch klar, dass fantasielose Ermittler in mir den Täter sehen würden!« Graberts Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ihr habt doch keine Ahnung, was ich auf mich genommen habe, um wieder unter ganz »normalen Menschen« leben zu können, nicht wahr? Früher war ich schlank und durchtrainiert, der Schwarm vieler Mädchen, mit Waschbrettbauch und tollen Muskeln. Ich habe jeden Tag Sport getrieben, um meiner Körper zu stählen – und nun sehen Sie sich doch mal an, was dieses Medikament aus mir gemacht hat!«
Er zog das Sweatshirt über seinem Oberkörper glatt und demonstrierte seinen Körperumfang und seinen Brustkorb.
»Jetzt habe ich eine Körbchengröße, die die meiner letzten Freundin bei weitem übertrifft. Ich habe gewaltig an Gewicht zugelegt, mein Bauch ist so dick geworden, dass ich meine Füße schon lange nicht mehr sehen kann und so traue ich mich weder in ein Schwimmbad noch in ein Fitnesscenter. Beim Duschen würden die anderen über mich spotten – glauben Sie denn, ich höre nicht das Getuschel, wenn die Leute über mich reden, wenn ich auf der Straße vorbeigehe? Wie sollte ich von Verständnis für meine Situation erbitten, ohne überall meine schreckliche Vorgeschichte zu erwähnen?«
»Herr Grabert, nehmen Sie sich etwas zurück!«, forderte ihn sein Anwalt auf.
Der Hauptkommissar schwieg nachdenklich. Ein Satz von Frau Dr. Jung fiel ihm wieder ein. Sie hatte ihn schon darauf hingewiesen, wie einsam die Therapie mit Androcur machen konnte.
Leise, fast flüsternd fuhr Günter Grabert fort.
»Dicke Männer mit ausdrucksvollen Brüsten sind bei anderen Männern und bei Frauen gleichermaßen unbeliebt. Frauenmörder, die die Leichen ihrer Opfer verstümmeln, kommen auch überhaupt nicht gut an. Aus dem Maßregelvollzug Entlassene stoßen auch nicht gerade auf Gegenliebe bei ihren Mitmenschen. Können Sie sich überhaupt nur annähernd vorstellen, wie einsam mein Leben ist? Können Sie das?« Er sah auf seine Hände und begann wieder die Finger zu verknoten.
»Doch ich gehe wieder zur Arbeit, treffe dort mit anderen zusammen und kann mit ihnen über Alltäglichkeiten oder
Weitere Kostenlose Bücher