Rachedurst
hätte sich noch vor dem Fenster befunden – mit einer Kugel direkt zwischen den Augen.
»Nichts wie weg hier!«, schrie Sorren mich an.
Geduckt schob er mich zur Vorderseite des Krankenwagens, als das dröhnende Echo des Schusses von einem kollektiven Schrei auf der Straße übertönt wurde. Die gaffende Menschenmenge rannte in alle Richtungen davon. Es herrschte das reinste Chaos.
Rennt um euer Leben!
»Derjenige, der Sie umbringen wollte, wird es immer noch vorhaben«, hatte Sorren gerade erst gesagt.
Und das hatte er nicht als Witz gemeint …
Ein zweiter Schuss pfiff durch die Luft, die Kugel durchbohrte die Seite des Krankenwagens etwa drei Handbreit von meiner Brust entfernt. Ich vermutete, der Schütze hatte mich nicht richtig im Visier.
Noch nicht.
Wer auch immer es sein mochte, benutzte offenbar ein Gewehr mit großer Reichweite.
Dann hörte ich ein völlig anderes Geräusch. Pop! Pop-pop-pop! Pop! Pop-pop-pop!
Das waren Handfeuerwaffen – und sie zielten in die entgegengesetzte Richtung. Das Feuer wurde erwidert. Geschieht
dir ganz recht, du Arsch. Das passiert, wenn man auf einer Straße voller Polizisten herumballert!
Ich schob mich, den Rücken gegen den Kotfügel gepresst und dicht gefolgt von Sorren, zur Vorderseite des Krankenwagens.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er mich atemlos.
Auch ich schnappte nach Luft. »Ja, bei mir ist alles in Ordnung. Bei Ihnen?«
»Ganz klasse. Richtig toll, Nick. Ich bin noch in einem Stück, aber ich glaube, ich habe keine Lust mehr, mit Ihnen um die Häuser zu ziehen.«
So schnell das Feuerwerk begonnen hatte, so schnell war es wieder zu Ende. Die Schreie und die Verwirrung machten einer unheimlichen Stille Platz.
Und niemand traute sich aufzustehen.
Sieben Meter entfernt blickte ich einer Frau in die Augen, die sich hinter den roten Backsteinen einer kleinen Veranda versteckte. Ihr Ausdruck sagte alles. Ist es wirklich vorbei?
Vielleicht für dich, hätte ich ihr sagen können.
Nicht für mich.
David Sorren umfasste meinen Arm. »Sie bleiben hier«, verlangte er. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
»Wohin wollen Sie?«
»Nachsehen, ob der Schütze geschnappt wurde.«
Sorren erhob sich aus seiner Hocke und spähte über die Motorhaube des Krankenwagens.
»Hey, seien Sie vorsichtig«, warnte ich ihn.
Er nickte, musste dann aber lächeln. »Glauben Sie immer noch, Sie brauchen keinen Polizeischutz?«
Ich bin sicher, Sorren hielt das für die rhetorischste Frage, die er je gestellt hatte, doch als er davonspurtete, fragte ich mich, ob die Antwort so klar war. Ich war nicht nur von
Polizisten, sondern von New Yorker Polizisten umgeben gewesen, und zweimal hatte nicht viel gefehlt, dann wäre ich erschossen worden. Inwieweit waren sie in der Lage, mich zu beschützen?
Plötzlich erblickte ich am anderen Ende der Straße ein leuchtend gelbes Fahrzeug. Darauf brannte ein weißes Licht, und ich hätte schwören können, dass es meinen Namen rief. Los, Nick, verdünnisieren wir uns … Machen wir, dass wir hier wegkommen.
70
Ich hatte überlegt, zu Courtney nach Hause zu fahren, doch dort würde mich der Mörder vielleicht suchen. Also verzog ich mich an einen anderen Ort, der sicherer war. »Wie viel hat das Taxi gekostet?«, fragte meine Schwester Kate, die am Kopfende des Küchentisches einen Becher mit Kamillentee umklammerte. Um ein Uhr nachts war es das Einzige ohne Koffein, das ihr Schrank hergab.
»126 Dollar«, antwortete ich. »Plus Trinkgeld.«
Kate schüttelte ungläubig den Kopf. »Du weißt, du hättest mit dem Fahrer vorher einen Pauschalpreis aushandeln können. Hättest einiges an Geld gespart, Nicky.«
Ich begann zu lachen. Es fühlte sich gut an, aber nur einen Moment lang.
»Was ist so lustig?«, wollte Kate wissen. Doch die Antwort kam ihr von allein. »Ach ja, du hast recht. Nach dem, was du heute Abend erlebt hast, war das Geld vielleicht nicht so wichtig.«
»Stimmt, das war es nicht«, bestätigte ich. »Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass du die Sparsame in der Familie bist.«
Natürlich war ich, ehrlich gesagt, nicht im Mindesten überrascht. Als Kates Ehemann noch gelebt hatte, hatten sie dank seiner Arbeit als Ölhändler viel Geld gehabt. Nach seinem Tod hatte sie durch die Lebensversicherung zwar noch mehr erhalten, doch ihr Gefühl für Sicherheit verloren. An dessen Stelle war eine neu gefundene Dankbarkeit für den Wert von allem getreten, das sie umgab, angefangen
beim
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