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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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festgestellt, dass sie den Zweck vollkommen erfüllte. Er warf das Päckchen Blätter neben die Betonmischung auf den Einkaufswagen und machte sich auf die Suche nach dem Meißel.
    Dutzende Meißel suchte er durch, eine ganze Wand war mit ihnen vollgehängt. War seiner etwa ausverkauft? So kurz vor Weihnachten konnte es Tage dauern, bis sie wieder lieferbar waren. Was sollte er die ganze Zeit über mit dem Mädchen anstellen? Er konnte sie doch nicht drei oder vier Tage im Haus behalten. Selbst wenn er sie heute Abend noch verschonte, wie er sich vorgenommen hatte, würde bis zum zweiten Weihnachtstag der Geruch schon penetrant sein. Beim ersten Mal war ihm das passiert, bevor er sich seine nächsten Schritte überlegt hatte. Vier Tage hatte die Leiche herumgelegen, erst dann war er daraufgekommen, was er damit machen sollte.
    Nur ruhig Blut, redete er sich zu.
    Wenn sie hier ausverkauft waren, gab es immer noch die andere Filiale im Norden der Stadt. Da konnte er einfach hinfahren. Die Wahrscheinlichkeit war gering, dass sie in beiden Läden ausverkauft sein würden.
    Als er seinen Puls wieder unter Kontrolle hatte, entdeckte er das Metallteil in einer Kiste mit unverpackten Meißeln, die unter der Präsentationswand auf der Erde stand. Er kniete sich hin, zog seinen Meißel aus der Kiste und prüfte durch die dünne Latexhaut der OP-Handschuhe, die er trug, das Gewicht des soliden Schafts und die Schärfe der Spitze. Mit einem satten Scheppern ließ er den Meißel in den Wagen fallen.
    An der Kasse scannte Billy Crawford seine Einkäufe ein, mitgesenktem Kopf und ohne jemanden anzuschauen. Er schob ein paar Geldscheine in den Automaten, wartete auf seine Quittung und rollte den Einkaufswagen zum Ausgang.
    Als er an seinem Transporter war, rief jemand: »Sir? Sir!«
    Er erstarrte, tat aber so, als habe er nichts gehört. Er schloss die Schiebetür auf und hievte den Schotter in den Wagen.
    Wieder rief die Stimme, es war die einer jungen Frau, schrill und hartnäckig.
    Er warf die Sägeblätter und den Meißel in den Transporter.
    Schritte kamen auf ihn zu, und die durchdringende Stimme rief ihn erneut.
    Er schob den Einkaufswagen zum Sammelpunkt und hoffte inständig, die junge Frau würde ihn in Ruhe lassen.
    Doch den Gefallen tat sie ihm nicht.
    »Sir, Sie haben Ihr Wechselgeld vergessen«, rief sie, als sie fast bei ihm war.
    Er tat erschrocken. »Wirklich?«
    »Hier«, sagte sie lächelnd und reichte es ihm. Sie trug einen grellen orangefarbenen Latzanzug, der farblich zu ihrer ungleichmäßig aufgetragenen Bräunungscreme passte. Lametta wand sich wie eine Schlange um ihren Hals. Auf dem Kopf trug sie eine Weihnachtsmütze.
    »Danke«, sagte er und griff nach dem Geld.
    Da bemerkte sie die Latexhandschuhe.
    »Ekzeme«, erklärte er.
    Beinahe erstarb ihr Lächeln, doch dann erinnerte sie sich wieder des freundlichen Auftretens, das ihr Arbeitgeber ihr eingetrichtert hatte. Ohne ihn anzufassen, ließ sie ihm die Münzen in die Hand klimpern.
    »Danke schön«, sagte er und machte einen Schritt zurück. »Frohe Weihnachten.«
    »Ihnen auch.«
    Er sah ihr nach, wie sie in den Laden zurückging, erst dann stieg er in den Transporter und ließ den Motor an. Während er in die Boucher Road einbog, überlegte er hin und her, wie ernst er diesen Zwischenfall nehmen musste.
    Ja, er hatte sie nervös gemacht.
    Ja, sie würde sich an ihn erinnern, an die Teile, die er gekauft hatte, an die OP-Handschuhe an seinen Händen.
    Vielleicht hatte sie sich ja sogar das Nummernschild seines Transporters notiert.
    Um all das musste man sich Sorgen machen, sollte die Polizei sie je vernehmen.
    Aber welchen Grund sollte die Polizei haben, sie zu vernehmen? Welches Verbrechen sollte sie an ihre Tür führen? Welche Meldung in den Nachrichten sollte dazu führen, dass sie sich an den seltsamen Mann auf dem Parkplatz erinnerte und zum Telefon griff ?
    Es würde ja gar kein Verbrechen geben.
    Genau deshalb suchte er sich die Mädchen ja auch so aus. Gestohlene Seelen, Verlorene, Prostituierte ohne Pass. Diejenigen, die diese jungen Frauen geraubt hatten, würden wohl kaum zur Polizei gehen, wenn man sie ihnen ihrerseits wieder geraubt hatte.
    »Ich raube die Geraubten«, sagte er.
    Als ihm klar wurde, dass er laut gesprochen hatte, hüstelte er und wurde rot. So was kam in letzter Zeit immer öfter vor. In den abwegigsten Momenten fiel ihm plötzlich ein Gedanke aus dem Kopf direkt auf die Zunge, noch bevor er ihn auffangen

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