Rachekind: Thriller (German Edition)
gemeinsam mit Lilou auf den Stuhl.
Marten nahm ihr gegenüber Platz und studierte die Menükarte. »Kürbiscremesuppe mit Ingwer, Putenbrust im Parmesanmantel auf Spinatbett mit Polentaschnittchen, Nussparfait auf karamellisierten Orangenscheiben.« Marten sah sie über die Menükarte hinweg an. »So etwas gab es hier früher bestimmt nicht auf der Speisekarte.«
»Mit Sicherheit nicht.« Wie dieser Raum wohl ausgesehen haben mochte, als Steve hier als Heimkind gewohnt hatte? Ob die hohen Decken damals schon mit Stuck und die Wände mit Landschaftsbildern in sanften Pastelltönen verschönert waren? Die Tische waren locker im Raum verteilt und boten Platz für etwa fünfzig Gäste, waren aber nur zu einem Viertel belegt, vorwiegend von älteren Paaren.
»Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?« Ein junges Mädchen, etwas übergewichtig, aber mit einem freundlichen Lächeln, das einen sofort für sie einnahm, stand abwartend an ihrem Tisch.
»Stilles Wasser, bitte«, sagte Hanna. »Eine Flasche.«
»Mir eine Cola«, sagte Marten.
Die Bedienung entfernte sich, und Lilou lockerte ihren Klammergriff um Hannas Hals. Hanna drehte sie um und setzte sie auf ihren Schoß. Noch immer spürte sie die Anspannung in dem kleinen Körper, und sie strich Lilou beruhigend über den Kopf.
»Übrigens, du bist dran«, sagte Marten. »Woher wusstest du das mit meinem Namen?«
Die Bedienung kam mit den Getränken zurück und verschwand wieder.
Hanna schenkte Wasser in die Gläser. »Ich habe den Brief gelesen, der in deinem Auto unter dem Schal lag.« Sie beobachtete sein Gesicht. Sein Mund wirkte verkniffen.
»Du hast in meinen Sachen geschnüffelt?«
Hanna nickte und vertiefte sich in die Menükarte.
»Du bist gut.«
Überrascht sah sie hoch. Er hatte sich zurückgelehnt, und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
»Du hast also gedacht, ich wäre ein Schurke, und hast trotzdem die Show weiter mitgemacht. Hut ab! Ich bin dir auf den Leim gegangen.«
»Du bist mir nicht böse?«
»Schnüffeln ist mein Job.« Martens Grinsen verschwand. »Ich hatte mir so etwas schon gedacht, aber ich habe dir nicht zugetraut, dass du so gut schauspielern kannst.«
Hanna lachte erheitert.
»Guten Abend.«
Die Stimme kam wie aus dem Nichts. Hanna drehte den Kopf und blickte in die stechenden Augen des alten Mannes. Er hatte beide Hände an den Rädern seines Rollstuhls, als habe er nicht vor, sich länger bei seinen Gästen aufzuhalten, als es seine Pflicht als Hotelbesitzer verlangte. Hanna merkte, wie Lilou versteifte, und sie legte ihre Arme beschützend um Lilou.
»Alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Danke«, hörte sie Marten sagen. Der Alte nickte und begann seinen Rollstuhl nach hinten wegzubewegen, als Lilou sich auf ihrem Schoß aufbäumte. Erschrocken lockerte Hanna ihren Griff und sah fassungslos, wie Lilou sich in einem Schwall auf den Tisch erbrach.
Reflexartig sprang sie mit Lilou auf und stützte ihren Kopf. Lilou würgte, und sie sah die rote Masse, die sich auf dem strahlend weißen Tischtuch ausbreitete, als wäre es frisches Blut. Sie vernahm die Befehle, die der Alte der Bedienung zurief, und das Scharren von Stühlen, und sie spürte die neugierigen Blicke der anderen Gäste.
Ohne zu überlegen, stieß sie den Stuhl zurück und rannte mit Lilou aus dem Speisesaal. Rannte durch das Foyer. Rannte ins Freie. Regen peitschte ihr ins Gesicht, und sie drehte sich mit dem Rücken zum Wind, um ihr Kind zu schützen. Ihr Körper bebte. Ihre Beine fühlten sich so zittrig an, als habe sie gerade einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Sie mussten ins Krankenhaus. Wo war das Blut hergekommen? Lilou wimmerte leise. Hanna legte ihre Stirn an Lilous Kopf und wiegte sie hin und her.
»Wir müssen sie zu einem Arzt bringen.« Marten war ihr gefolgt. Er legte seine Jacke über Lilou. »Ich habe etwas von ihrem Erbrochenen in dem Glas. Lass uns beten, dass es kein Blut ist.«
Lilou schlief so friedlich in Hannas Armen, als wäre nichts geschehen. Dennoch kämpfte Hanna gegen ihre eigene Müdigkeit, gegen das Zufallen der Augen und das Nachvornesacken des Kopfes.
Im Neonlicht des Warteraums der Kinderstation wirkte Lilou gespenstisch bleich. Sie hatten ihr Blut und Urin abgenommen, Fieber gemessen und sie gründlich untersucht. Dann hatten sie Lilou zu ihr zurückgebracht. Sie sollten auf die Ergebnisse der Laboruntersuchung warten, hatte der Arzt gesagt. Sonst nichts. Bis dahin weigerte er sich, irgendwelche
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