Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
Vom Netzwerk:
Mums Stimme erklang, schreckte ich hoch, und mein Herz klopfte wie wild. »Komm, Anna sitzt schon in ihrem Kinderwagen. Wenn du dich nicht beeilst, kommen wir zu spät, um die beiden von der Schule abzuholen.«

    Ich betete – allerdings ohne großes Gottvertrauen –, dass Margaret sich das Bein gebrochen hatte oder tot war oder ein ähnlicher Glücksfall eingetreten war, wenn wir bei der Schule ankamen.
    Das war aussichtslos.
    Also betete ich auf dem Rückweg, dass ich mir das Bein brechen oder tot umfallen würde. Ich betete ziemlich häufig, dass ich mir das Bein brechen würde. Wenn man ein gebrochenes Bein hatte, bekam man haufenweise Süßigkeiten, und alle mussten nett zu einem sein.
    Aber als ich nach Hause kam, fehlte mir nicht das geringste und ich schlotterte geradezu vor Angst.
    Einen kleinen Moment lang dachte ich, ich wäre gerettet – meine Mutter bekam die hintere Tür nicht auf. Sie drehte und rüttelte an dem Schlüssel, aber nichts passierte. Sie zog die Tür zu sich und versuchte wieder, den Schlüssel zu drehen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen.
    Ein unheilvolles Gefühl breitete sich in mir aus.
    Mum murmelte nicht mehr leise vor sich hin, sondern schimpfte jetzt laut und deutlich.
    »Was ist denn, Mum?«, fragte ich bekümmert.
    »Sieht so aus, als ob das verdammte Schloss kaputt ist«, sagte sie.
    Da bekam ich es erst recht mit der Angst zu tun! Meine Mutter sagte nie »verdammt« und wies Daddy zurecht, wenn er es sagte. Es sah schlimm aus.
    Ich war im Innersten überzeugt, dass das alles meine Schuld war. Es hatte damit zu tun, dass ich Margarets Osterei gegessen hatte, ich hatte eine schwere Sünde begangen, vielleicht war es auch eine Todsünde, obwohl ich nicht richtig verstand, was das bedeutete, auf jeden Fall wurde ich jetzt bestraft. Ich und meine Familie.
    Ich wartete darauf, dass sich der Himmel verdunkeln würde, so wie auf den Bildern vom Karfreitag, nachdem das Jesuskind gestorben war.
    »Ist das nicht schrecklich, Rachel?«, sagte Claire boshaft. »Jetzt können wir nie mehr in unser schönes Haus.«
    Daraufhin brach ich in lautes, angsterfülltes, schuldbewusstes Weinen aus.
    »Hör auf damit, Claire«, zischte Mum. »Sie ist so schon schlimm genug. Wir müssen jemanden holen, der das Schloss aufbricht«, fuhr sie ungeduldig fort. »Ihr bleibt hier und passt auf Anna auf, während ich zu Mrs. Evans gehe und anrufe.«
    Sobald sie gegangen war, erzählten Margaret und Claire mir wilde Geschichten von Mädchen in ihrer Klasse, die aus ihren Häusern ausgesperrt wurden und nie wieder hineingehen konnten.
    »Sie musste auf der Müllhalde leben«, sagte Claire, »und zerlumpte Kleider tragen.«
    »Und nachts hatte sie eine leere Cornflakespackung als Kopfkissen.«
    »Und ihr einziges Spielzeug war ein Blatt Papier, das sie falten konnte, obwohl sie in ihrem Haus massenhaft Puppen und Kuscheltiere hatte.«
    Ich war vollkommen eingeschüchtert und weinte heiße Tränen angesichts dessen, was ich angerichtet hatte. Ich allein war dafür verantwortlich, dass meine Familie kein Zuhause mehr hatte. Und nur, weil ich so gierig war.
    »Können wir nicht ein neues Haus kaufen?«, fragte ich bettelnd.
    »O nein«, sagten sie beide kopfschüttelnd. »Häuser kosten eine Menge Geld.«
    »Aber ich habe doch Geld in meiner Spardose«, bot ich an. Ich hätte mein Leben gegeben, ganz abgesehen von den fünfzig Pence, die mir Auntie Julia in einer roten Telefon- kioskdose geschenkt hatte.
    »Aber die Dose ist im Haus eingeschlossen«, sagte Claire, und beide hielten sie sich vor Hohngelächter die Seiten.
    Mum kam zurück und sagte, wir müssten vor dem Haus warten. Die Nachbarn luden uns zu einem Tee zu sich ein, aber Mum meinte, wir sollten vor dem Haus bleiben, damit der Mann uns sehen könnte, wenn er käme. Also brachte Mrs. Evans uns einen Teller mit belegten Broten, die Claire und Margaret, nachdem sie sich sich auf der Wiese niedergelassen hatten, mit großem Appetit verspeisten. Ich konnte nichts essen. Ich würde nie wieder etwas essen. Vor allem keine Ostereier.
    Die Leute, die auf der Straße nach Hause eilten, sahen uns neugierig an. Sie kamen von der Arbeit oder von der Schule und gingen zu ihrem Abendessen nach Hause, zu dem es gemäß dem Stil der frühen siebziger Jahre Kartof- felbrei aus der Tüte geben würde und zum Nachtisch einen Fertigpudding, dazu würden sie ein Lied von David Cassidy summen und darauf warten, dass der Vietnamkrieg zu Ende ging und die Ölkrise

Weitere Kostenlose Bücher