Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
sich und Ihr Lebensglück. Sie sind nicht mehr auf Gedeih und Verderb an die Rolle gebunden, die Ihre Eltern Ihnen zugewiesen haben. Bloß weil man Ihnen immer gesagt hat, Sie seien zu groß und zu dumm, heißt das ja nicht, dass das stimmt.«
»Ich bin von meiner Familie sehr beschädigt worden«, schniefte ich selbstgerecht und hörte gar nicht auf das, was sie sagte. Ich sah, dass Mike sich ein Lachen verkniff. Und von Misty kam unverhohlener Hohn.
»Was ist daran lustig?«, fragte ich sie böse. Ich hätte sie nie so herausgefordert, wenn ich nicht dermaßen wütend gewesen wäre.
»Du? Beschädigt?« Sie lachte.
»Ja«, sagte ich laut und deutlich. »Ich. Beschädigt.«
»Wenn du einen Vater gehabt hättest, der, seit du neun warst, jeden Abend zu dir ins Bett gekommen wäre und seinen Schwanz in dich reingesteckt hätte, dann würde ich sagen, du wärst beschädigt«, sagte sie hastig und schrill. »Und wenn deine Mutter dich als Lügnerin beschimpft und grün und blau geschlagen hätte, als du dich ihr anvertrauen wolltest, dann würde ich sagen, du wärst beschädigt! Wenn deine ältere Schwester mit sechzehn von zu Hause weggegangen wäre und dich deinem Vater ausgeliefert hätte, dann würde ich sagen, du wärst beschädigt.« Ihr Gesicht war wild verzerrt, sie saß auf der Stuhlkante. Ihre Sommersprossen sprangen ihr förmlich aus dem Gesicht, und sie fletschte die Zähne. Plötzlich schien ihr bewusst zu werden, was sie da sagte, und sie brach ab und setzte sich mit gesenktem Kopf zurück.
Ich spürte, dass mein Gesicht vor Schock erstarrt war. Den anderen ging es nicht anders. Abgesehen von Josephine. Sie hatte das erwartet.
»Misty«, sagte sie sanft, »es war auch an der Zeit, dass Sie uns davon erzählen.«
Für den Rest der Sitzung galt die Aufmerksamkeit nicht mehr mir. Misty hatte mich beschämt, aber ich konnte nicht umhin, böse auf sie zu sein, weil sie mir meinen Ausbruch vereitelt hatte.
Nach der Gruppensitzung im Speisesaal weinte Misty, und beunruhigt stellte ich fest, dass Chris ihr praktisch auf dem Schoß saß. Er blickte auf, als ich hereinkam, wandte sich dann aber wieder sehr betont Misty zu und wischte ihr die Tränen mit den Daumen weg. Wie er es damals bei mir gemacht hatte. Ich war so eifersüchtig, als wenn wir seit vier Jahren verheiratet wären und ich ihn gerade mit Misty im Bett erwischt hätte. Er sah mich wieder an, mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.
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A ls Misty ihre schockierenden Enthüllungen machte, hörte die ganze Aufmerksamkeit, die mir in dieser Woche gegolten hatte, mit einem Schlag auf. Die Geschichte ihres Missbrauchs stand im Mittelpunkt des Interesses und nahm die Freitagssitzung sowie den größten Teil der folgenden Woche in Anspruch. Aller Augen waren auf sie gerichtet, während sie wütete und weinte, schrie und tobte.
Ich empfand fast eine gewisse Enttäuschung, als ich feststellte, dass das Leben in Cloisters auch weiterhin seinen normalen Gang ging wie vor dem apokalyptischen Auftreten von Luke und Brigit. Zwar hatte ich Gewaltphantasien, in denen ich sie beide umbrachte, aber trotzdem ging ich weiter zu den Gruppensitzungen, nahm an den Mahlzeiten teil und redete und spielte mit den anderen. Am Donnerstagabend ging ich zu meiner NA – Versammlung, am Samstagmorgen zum Kochkurs, und abends war ich beim Spieleabend. Aber hauptsächlich beobachtete ich Chris. Ich konnte ihn nicht richtig durchschauen, und das frustrierte mich. Zwar war er nach wie vor sehr nett zu mir, aber immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich hatte gehofft, dass er mich irgendwann mit einer Umarmung überraschen würde, aber das passierte nie. Und was mir wirklich zu schaffen machte, war sein Verhalten gegenüber Misty, denn zu ihr war er genauso nett, wenn nicht noch netter.
Trotz seiner Uneindeutigkeit hörte er mir geduldig zu, als ich ihm hysterisch kreischend erzählte, was für verlogene Widerlinge Luke und Brigit seien. Auch bei den anderen Insassen konnte ich mich darüber auslassen, obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie mir nicht unbedingt glaubten. Ich konnte nicht umhin, mich an die Tage erinnert zu fühlen, als Neil so wütend auf Emer gewesen war und sie nach Strich und Faden beschimpft hatte, während alle anderen ihm sanft auf den Rücken geklopft und zustimmend gemurmelt hatten.
Chaquie war diejenige, die verhinderte, dass ich wahnsinnig wurde. Sie wachte mit mir, wenn ich vor Wut nicht einschlafen konnte. Zum Glück schien sich ihre
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