Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
zu dunkel und zudem schlecht aufgetragen war. Sie war übergewichtig, ihr Rocksaum hing an einer Stelle herunter, und ihr roter Rock war viel zu eng.
Mein erster Gedanke war, dass sie in einem erbärmlichen Zustand war. Doch innerhalb weniger Sekunden hatte sie sich mit allen bekannt gemacht, warf ihnen ihre Zigaretten zu und machte witzige und anzügliche Bemerkungen. Mit großer Besorgnis sah ich, was ebenso eindeutig wie unerklärlich war, dass sie sexy wirkte. Wieder stellte sich diese bekannte Angst ein, dass Chris seine Aufmerksamkeit von mir abwenden könnte.
In ihrer Haltung und der Art, wie sie sich bewegte, glich sie einer Göttin. Die Rundung ihres Bauches in dem scheußlichen, bleistiftengen Rock schien sie gar nicht zu bemerken. Mich hätte so etwas in Selbstmordstimmung versetzt. Eifersüchtig beobachtete ich sie, und beobachtete Chris, der sie beobachtete.
Als sie Misty sah, stieß sie einen kleinen Schrei aus und kreischte: »O’Malley, was machst du denn hier, du Alki?«
»Francie, du alte Schnapsdrossel«, parierte Misty hoch erfreut und lächelte zum ersten Mal seit einer Woche. »Dasselbe wie du.«
Es stellte sich heraus, dass sie beide im Jahr zuvor auch in Cloisters waren. Der Jahrgang sechsundneunzig.
»Waren Sie schon mal hier?«, fragte jemand schockiert.
»Na klar, ich war in allen Kliniken, Nervenheilanstalten und Gefängnissen in Irland.« Francie lachte laut auf.
»Warum?«, fragte ich. Sie übte eine merkwürdige Faszination auf mich aus.
»Weil ich übergeschnappt bin. Schizophren, manisch, depressiv, traumatisiert, such dir was aus. Guck hier«, sagte sie und rollte den Ärmel zurück, »guck dir diese Schnittmuster an! Habe ich alles selbst gemacht.«
Ihre Arme waren von Schnittwunden und Narben übersät. »Das hier war ’ne Zigarette«, erklärte sie hilfsbereit. »Hier, noch eine.«
»Was ist denn diesmal passiert?«, fragte Misty.
»Frag lieber, was nicht passiert ist!«, sagte Francie darauf und verdrehte die Augen. »Ich hatte nichts zu trinken, es gab nur noch Methanol zum Desinfizieren für die Pfoten der Windhunde, also hab ich das getrunken. Als ich wieder zu mir kam, war es eine Woche später – ichhatteeineganze-Wocheverloren, stellteuchdasmalvor! –, und ich kam zu mir, als ich gerade von einer Bande vergewaltigt wurde, irgendwo außerhalb von Liverpool!«
Sie musste Luft schöpfen, bevor sie weitersprechen konnte. »Habenmichfürtotgehaltenundliegenlassen, bininsKrankenhausgekommen, ausgenüchtertworden, verhaftet, abgeschoben, wiedernachHausegeschickt, kaumzuHauseangekommen, schickensiemichhierher. Undhierbinich!«
Alle im Raum schwiegen, der Ausdruck auf den Gesichtern der Männer sprach Bände, zweifellos wünschten sie sich, Mitglied der Gang außerhalb von Liverpool zu sein.
»Weshalb bist du hier?«, fragte sie mich fröhlich.
»Drogen«, sagte ich, ganz fasziniert von ihr.
»Hoho, das Feinste vom Feinen«, nickte sie zustimmend. »Gehst du zu den NA-Treffen?«
Als sie die momentane Verwirrung in meinem Gesicht sah, erklärte sie ungeduldig: »Narcotics Anonymous. Gott, ihr Anfänger!«
»Nur zu denen, die hier stattfinden«, sagte ich fast entschuldigend.
»Ach die! Die taugen nicht viel. Die draußen sind viel besser.«
Sie kam näher an mich heran und plapperte weiter. »Alles Kerle. JedeMengeKerle! NA ist randvoll mit Männern, keiner auch nur einen Tag älter als dreißig, und alle sind echt scharf. Da kannst du sie dir aussuchen. AA ist längst nicht so gut. Zu viele Frauen und alte Knacker.«
Bis zu dem Zeitpunkt hatten die NA-Treffen so gut wie keinen Eindruck bei mir hinterlassen. Normalerweise schlief ich dabei ein. Aber was Francie mir sagte, klang gut.
»Zu welchen gehst du, zu den AA- oder NA-Treffen?«, fragte ich sie und bediente mich lässig der Abkürzungen.
»Ich gehe zu allen«, sagte sie lachend. »Ich bin nach allem süchtig: Alkohol, Pillen, Essen, Sex ...«
Die Mienen aller anwesenden Männer hellten sich bei Francies letztem Wort auf.
Bei der ganzen Aufregung um Francie wurde der andere Neuling kaum beachtet. Erst nachdem Francie und Misty zusammen abgezogen waren, um Neuigkeiten auszutauschen, kam er ins Blickfeld. Es war ein älterer Mann namens Padraig, der so heftig zitterte, dass er sich kaum Zucker in den Tee löffeln konnte. Während ich entsetzt zuguckte, verstreute er den ganzen Zucker auf dem Tisch, bevor er ihn in die Tasse befördert hatte. »Konfetti«, sagte Padraig in dem Versuch, lustig zu
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