Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
sein.
Ich lächelte und konnte mein Mitleid nicht verbergen.
»Warum bist du hier?«, fragte er mich.
»Drogen.«
»Weißt du«, sagte er und rückte näher. Ich musste an mich halten, um bei seinem Geruch nicht zurückzuweichen. »Eigentlich habe ich hier gar nichts verloren. Ich bin nur gekommen, um für eine Weile Ruhe vor meiner Frau zu haben.«
Ich sah ihn an: Er zitterte, stank, war unrasiert und verlottert. Ich fragte mich, ob wir alle dem gleichen Irrtum erliegen, wenn wir sagen, dass uns nichts fehlt? Alle ?
57
E s vergingen noch volle zwei Wochen nach Lukes und Brigits Besuch, bevor meine Welt zusammenbrach.
In der Zeit gab es zwar ein paar kleinere Beben, seismographische Vorboten sozusagen, die ausgeschickt wurden, um mich vor der nahenden Erschütterung zu warnen.
Doch zu keinem Zeitpunkt erkannte ich ein Muster. Ich wollte das enorme Erdbeben, das herannahte, nicht sehen.
Es kam dennoch.
Was Francie über all die jungen Männer bei den NA-Treffen gesagt hatte, ließ mich mit viel größerem Interesse als zuvor zu dem Gruppentreffen am Donnerstagabend gehen. Falls die Sache zwischen mir und Chris nicht klappte, wäre es nicht schlecht zu wissen, wo andere Kerle vorrätig waren und wie die korrekte Vorgehensweise war.
Wir machten uns auf den Weg: ich, Chris, Neil, ein paar andere und natürlich Francie. An dem Abend trug sie einen Strohhut und ein langes durchgeknöpftes Kleid mit Blumenmuster. Über ihrem Leib spannte sich der Stoff und gab Einblicke auf einen pickligen Busen und Cellulitis-Schenkel frei. Obwohl sie erst seit ein paar Tagen hier war, hatte ich sie schon in mindestens zwanzig verschiedenen Aufzügen gesehen. Beim Frühstück hatte sie eine Lederweste und sehr enge Jeans getragen, die sie in scheußliche Stiefel mit spitzen Absätzen gestopft hatte. In der Gruppensitzung trug sie einen orangefarbenen Achtziger-Jahre-Overall, mit Schulterpolstern, die an einen amerikanischen Footballspieler erinnerten. In der Nachmittagssitzung hatte sie einen Minirock aus Kunstleder an und ein rosafarbenes, rückenfreies Oberteil aus Schafsfell. Viele verschiedene Kleidungsstücke, doch alle sahen billig aus, saßen schlecht und waren nicht die Spur von schmeichelhaft.
»Ich habe Tausende von Anziehsachen«, prahlte sie vor mir.
Aber wozu, wenn sie alle so scheußlich sind?, hätte ich für mein Leben gern gefragt.
Als wir die Treppe zur Bibliothek hinaufstiegen, waren wir in ausgelassener Stimmung und viel fröhlicher als angemessen, wenn man bedachte, wohin wir gingen.
Trotz Francies großspuriger Ankündigungen war derjenige, der von der NA geschickt worden war, kein Mann. Es war Nola, die wunderschöne Blonde mit dem sanften Akzent, die ich von meinem ersten Abend her kannte und die ich für eine Schauspielerin gehalten hatte.
»Hallo, Rachel.« Ihr Lächeln war bezaubernd. »Wie ist es dir ergangen?«
»Ganz gut«, murmelte ich und fühlte mich geschmeichelt, dass sie sich an mich erinnerte.
»Wie geht es dir?« Ich wollte mit ihr sprechen, denn ich fühlte mich merkwürdig zu ihr hingezogen.
»Bestens, danke«, sagte sie und lächelte wieder, sodass es mich warm durchrieselte.
»Mach dir nichts aus ihr«, murmelte Francie. »Draußen kommen zu den Treffen immer Kerle.«
»Es tut mir leid«, sagte Nola, nachdem wir alle unsere Plätze eingenommen hatten. »Einige haben ja meine Geschichte schon gehört, aber die Frau, die die Sitzung heute Abend eigentlich leiten sollte, ist rückfällig geworden und ist am Dienstag gestorben.«
Der Schreck fuhr mir in die Glieder, und ich sah mich panisch nach einem Halt um. Neil sah mich besorgt an und fragte tonlos: »Alles in Ordnung?« Ich war überrascht, dass er nicht mehr gereizt schien. Damit nicht genug, ich hasste ihn auch nicht mehr. Dankbar nickte ich ihm zu. Mein Herz drohte nicht mehr zu zerspringen.
Dann fing Nola an, von ihrer Sucht zu erzählen. Als ich sie drei Wochen zuvor gehört hatte, war ich überzeugt gewesen, dass sie ein Skript vorbereitet hatte. Ich hatte ihr einfach nicht geglaubt. Sie war zu schön und zu gepflegt, als dass sie mich hätte überzeugen können, dass sie je cool gewesen war. Doch diesmal war es anders. Ihre Stimme klang überzeugend, und ihre Lebensgeschichte schlug mich in den Bann. Sie erzählte, dass sie immer geglaubt habe, zu nichts zu taugen, dass sie Heroin heiß und innig geliebt habe und das Gefühl, das es ihr gab, dass es ihr bester Freund war und sie es jedem Lebewesen vorgezogen
Weitere Kostenlose Bücher