Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
musste.
»Stehen Sie zu dem, was Sie getan haben«, fuhr Josephine ihn an. »Sie haben es getan, also sagen Sie auch, dass Sie es getan haben.«
Man konnte richtig zusehen, wie sie versuchte, den armen Mann fertigzumachen, dachte ich anteilnehmend. Wie grausam. Ich musste zugeben, dass ich Josephine unterschätzt hatte. Sie glich weniger Mickey Rooney als vielmehr Dennis Hopper.
Es würde ihr jedoch nicht gelingen, mich so in die Enge zu treiben. Ich würde mich nicht auf diese Weise provozieren lassen, ich würde die Ruhe bewahren. Außerdem hatte sie gegen mich gar nichts in der Hand. Ich trank keine zwei Flaschen Brandy am Tag, und ich verkaufte auch kein Vieh, ohne es meinem Bruder zu sagen.
Josephine bedrängte John Joe, feuerte Fragen auf ihn ab, über seine Kindheit, über seine Beziehung zu seiner Mutter, das Übliche, vermutete ich. Aber ihn zum Sprechen zu bringen, war so, als wollte man Blut aus einem Kohlkopf pressen. Außer Achselzucken und ein paar ausweichenden Antworten war nicht viel aus ihm herauszubekommen.
»Warum haben Sie nicht geheiratet?«, fragte sie jetzt.
Erneutes Achselzucken, erneutes sanftes Lächeln.
»Hat sich nicht die Gelegenheit ergeben, denk ich.«
»Hatten Sie mal eine Freundin, John Joe?«
»Na ja, vielleicht eine oder zwei«, gab er zu.
»War es was Ernstes?«
»Na ja, vielleicht schon, wer weiß?« John Joe zuckte mit den Achseln (schon wieder!).
Langsam ging es mir auch auf die Nerven. Konnte er Josephine nicht einfach erzählen, warum er nicht geheiratet hatte? Sicherlich gab es eine einleuchtende wirtschaftliche, typisch irische Erklärung dafür. Vielleicht hätte der Hof nicht genug abgeworfen, wenn er zwischen ihm und seinem Bruder aufgeteilt worden wäre, oder vielleicht musste er mit dem Heiraten warten, bis seine Mutter starb, weil zwei rothaarige Frauen unmöglich unter einem (Stroh-) Dach leben konnten. (In den ländlichen Gegenden Irlands schien das wirklich ein Problem zu sein, das auch in der Volkskunst eine beherrschende Rolle spielte. Ich hatte einmal einen Sommer in Galway verbracht, ich kannte mich mit solchen Dingen aus.)
Josephine ließ nicht locker und stellte eine Frage nach der anderen, eine unverblümter als die andere. »Waren Sie einmal verliebt?«
Und schließlich fragte sie: »Haben Sie je Ihre Unschuld verloren?«
Ein kollektives Einatmen war zu hören. Wie konnte sie so was fragen?
Und bestand überhaupt die Möglichkeit, dass er sie nicht verloren hatte?
Ein Mann in seinem Alter?
Aber John Joe gab nichts preis. Er starrte unverwandt auf seine Schuhe.
»Lassen Sie mich die Frage anders stellen.« Josephine gab nicht auf. »Haben Sie Ihre Unschuld mit einer Frau verloren?«
Was wollte sie damit sagen? Dass John Joe seine Unschuld mit einem Schaf verloren hatte?
John Joe saß da wie eine Statue aus Stein.
Auch wir Übrigen rührten uns nicht. Ich hielt den Atem an.
Der voyeuristische Kitzel wurde von dem unschönen Gefühl, dass ich einem Menschen zu nahetrat, überschattet. Das Schweigen dauerte immer noch an. Und irgendwann sagte Josephine: »Gut, die Zeit ist um.«
Das war eine herbe Enttäuschung. Wie schrecklich, so im Ungewissen hängengelassen zu werden. Es war wie eine Seifenoper, nur schlimmer, weil dies hier die Wirklichkeit war.
Als wir uns zur Tür hinausdrängten, schwirrte mir der Kopf. Ich suchte Mike.
»Was sollte das denn bloß?«
»Weiß der Himmel.«
»Wann erfahren wir mehr?«
»Die nächste Sitzung ist am Montag.«
»O nein, so lange warten!«
»Hör zu!« Er klang verärgert. »Es bedeutet vielleicht gar nichts. Vielleicht ist es nur ein Spiel. Josephine stellt immer alle möglichen Fragen, in der Hoffnung, einen Nerv zu treffen. Sie wirft ihre Netze weit aus.«
Aber das nahm ich ihm nicht ab. Ich kannte das Prinzip der Spannungsverzögerung aus Seifenopern.
»Ach was ...«, sagte ich spöttisch, aber es hörte mir keiner zu. Verärgert stellte ich fest, dass Mike zu John Joe gegangen war, der ganz zittrig und mitgenommen aussah.
11
U nd was kommt jetzt?, fragte ich mich begierig. Geht es jetzt endlich zur Massage? Schon ganz aufgeregt beobachtete ich die anderen, um zu sehen, wohin sie gingen. Den Flur entlang, um die Ecke und – o nein! – wieder in den Speiseraum. Alle Teilnehmer aus Josephines Gruppe und den anderen Gruppen strömten in den Raum, gossen sich Tee ein, redeten laut miteinander und zündeten sich Zigaretten an. Vielleicht tranken sie nur schnell ein Tässchen, bevor es in
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