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Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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uns bitte Ihre Lebensgeschichte vorlesen?« Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum.
    John Joe war der alte Mann. Genau genommen war er uralt, er hatte buschige Augenbrauen und trug einen schwarzen Anzug, dessen Tuch vom vielen Tragen glänzte. Später erfuhr ich, dass dies der Anzug war, den er zu besonderen Anlässen trug. Zu Hochzeiten, Beerdigungen, außergewöhnlich einträglichen Stierverkäufen oder beim Aufenthalt in einer Entziehungsklinik, in der seine Nichte ihn abgeliefert hatte.
    »Ehm, ja gut, also«, sagte John Joe.
    Wann würden die anderen anfangen, über ihn herzufallen und ihn zu beschuldigen? Ich hatte mir Gruppentherapie viel dynamischer und gemeiner vorgestellt.
    John Joes Lebensgeschichte dauerte ungefähr fünf Sekunden. Er war auf einem Bauernhof aufgewachsen, hatte nie geheiratet und lebte jetzt mit seinem Bruder auf dem ehemaligen Hof seiner Eltern. Er hatte sie auf ein Blatt geschrieben, das scheinbar aus einem Schulheft herausgerissen worden war. Er las sie langsam und bedächtig vor. Sie war nicht besonders interessant.
    Dann sagte er: »Das war’s schon«, lächelte verlegen und senkte den Blick wieder auf seine großen, schwarzen Schuhe.
    Und abermals hüllte sich alles in Schweigen.
    Schließlich sagte Mike: »He, sehr genau hast du das aber nicht beschrieben.«
    John Joe linste unter seinen Augenbrauen hervor, zuckte mit den Achseln und lächelte sanft.
    »Ja«, sagte Chaquie, »du hast deine Trinkgewohnheiten gar nicht erwähnt.«
    Wieder zuckte John Joe mit den Achseln und lächelte. Er wagte einen vorsichtigen Blick. Er war der Typ, der sich auf der Straße hinter einem Busch verstecken würde, wenn ein Auto vorbeikam. Ein Mann der Berge. Ein Mann vom Land. Ein irischer Bauer.
    »Ehm, vielleicht könntest du das etwas genauer erzählen«, schlug Clarence unbeholfen vor.
    Schließlich sprach Josephine. Sie klang viel furchterregender, als ihr harmloses Äußeres erwarten ließ.
    »Das ist also Ihre Lebensgeschichte, John Joe?«
    Ein kleines Nicken.
    »Und kein Wort über die zwei Flaschen Brandy die Sie in den letzten zehn Jahren jeden Tag geleert haben? Kein Wort über das Vieh, das Sie verkauft haben, ohne Ihrem Bruder etwas davon zu sagen? Kein Wort über die Hypothek, mit der Sie das Haus belastet haben?«
    Hatte er das wirklich alles getan? Ich war ganz aufgeregt. Wer hätte das gedacht? Ein unscheinbarer alter Mann wie er.
    John Joe reagierte nicht. Er saß still, als wäre er aus Stein gehauen, also vermutete ich, dass das alles stimmte. Wenn nicht, wäre er doch sicher aufgesprungen und hätte sich heftig zur Wehr gesetzt.
    »Und was ist mit Ihnen?« Ihr Blick wanderte über die Versammelten. »Fiel Ihnen nichts anderes ein als ...«, an dieser Stelle ahmte sie einen kindlichen Singsang nach, »... ›das ist aber ziemlich kurz, John Joe‹?«
    Alle wanden sich unter ihrem Blick. Einen Augenblick lang auch ich.
    »Also, John Joe, fangen wir noch einmal von vorne an. Erzählen Sie der Gruppe, wie das mit Ihren Trinkgewohnheiten ist. Wir beginnen mit den Gründen, warum Sie trinken wollten.«
    John Joe war unbewegt. Ich wäre außer mir. Ich war auch jetzt außer mir. Schließlich hatte der arme Mann sich redlich Mühe gegeben. Am liebsten hätte ich Josephine gesagt, sie solle ihn in Ruhe lassen, aber dann dachte ich, vielleicht wäre es besser, erst ein paar Tage abzuwarten, bis ich mich mit Verbesserungsvorschlägen zu Wort meldete.
    »Na ja«, sagte John Joe. »Sie wissen ja, wie das ist.«
    »Um ehrlich zu sein, John Joe, nein, ich weiß es nicht«, sagte Josephine kühl. »Ich bin nicht diejenige, die aufgrund von chronischem Alkoholismus in Behandlung ist, müssen Sie bedenken.«
    Mein Gott, war sie grausam!
    »Ehm, na ja, es ist so«, begann John Joe bereitwillig zu erklären. »Wenn man abends so dasitzt, dann fühlt man sich ein wenig einsam, und dann trinkt man ein Gläschen ...«
    »Wer?«, fuhr Josephine ihn an.
    John Joe lächelte wieder sein gutmütiges Lächeln.
    »Wer trinkt dann ein Gläschen?«, drängte Josephine ihn.
    »Ich«, sagte John Joe. Es fiel ihm sichtlich schwer zu sprechen. Anscheinend hatte er in seinem Leben bisher auch nicht viel Anlass dazu gehabt.
    »Ich kann Sie nicht verstehen, John Joe«, sagte Josephine. »Sprechen Sie lauter. Wer hat ein Gläschen getrunken?«
    »Ich.«
    »Lauter.«
    »Ich.«
    »Noch lauter.«
    »ICH.«
    John Joe war ganz unglücklich und zitterte, weil er seine Stimmbänder so anstrengen

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