Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
eine Enttäuschung war, aber eine, die ich schon kannte.
Dennoch konnte er sich ansonsten wirklich sehen lassen. Er war dünn. Nicht von der blassen, eingefallenen, schmächtigen Sorte, mit toastständerartigen Rippen und baguetteförmigen Oberschenkeln. Rank und schlank, die Beschreibung würde ihm eher gerecht. Er hatte die Hemdsärmel hochgeschoben, und seine kräftigen Unterarme weckten in mir das Bedürfnis, sie zu berühren. Und seine Beine waren phantastisch. Ein winziges bisschen kürzer als das Idealmaß. Dagegen hatte ich nichts. Wenn ich fand, dass ein Mann gut aussah, dann machten ihn etwas zu kurze Beine eindeutig sexy. Warum das so war, wusste ich nicht. Vielleicht, weil es eine gewisse Robustheit versprach.
Oder auf einen dicken Schwanz hinwies. Obwohl ich wusste, dass lange Beine bewundernswert waren, war ich nicht wild auf Männer mit extralangen Beinen. In der Welt der Beine waren sie der Kaviar. Damit will ich sagen, dass ich nicht recht verstand, warum man so ein Aufhebens darum machte. Männer mit schlaksigen Beinen erinnerten mich an Giraffen oder an Ballerinen – insgesamt an etwas Weibisches.
Christy war in keiner Weise weibisch.
Plötzlich verstand ich, warum in der Messe ein solches Getue um den Leib Christi gemacht wurde. Erst jetzt, da ich es selbst erlebte, würde ich keine Einwände mehr dagegen haben, in die Knie zu gehen vor so einem ... Jetzt aber Schluss mit diesen Hirngespinsten. In einem Anflug von Einsamkeit vermisste ich plötzlich Brigit, vermisste Luke, vermisste jemanden, mit dem ich schmutzige Gedanken austauschen konnte.
Ich zwang meine Gedanken fort von Luke und hin zu Christy und seinem Körper.
Wäre es nicht wunderbar, wenn es zwischen mir und Christy funkte? Wenn wir uns ineinander verlieben würden. Und wenn er mit mir nach New York käme und wir Luke begegneten. Und wenn Luke am Erdboden zerstört wäre und mich anflehen würde, Christy zu verlassen. Und dann würde ich Luke eine Gemeinheit an den Kopf werfen wie: »Tut mir leid, Luke, aber jetzt weiß ich, wie oberflächlich du bist. Was Christy und ich füreinander empfinden, ist echt ...«
In meiner Phantasie war ich gerade so weit, dass Luke Christy schlagen wollte, worauf Christy Lukes Arm abfing und voller Mitleid sagte: »Hör zu, Mann, sie will dich nicht, kapiert?«, als ein paar der Männer anfingen, mit großem Geklapper Messer und Gabeln auf den Tisch zu werfen. Christy war einer von ihnen, was mich überraschte, denn in meinen Gedanken war er noch dabei, es Luke heimzuzahlen.
»Abendessen«, rief der dicke Eamonn begeistert.
Was ... ? Was soll das ... ? Was hatten sie bloß vor?
Zu meinem großen Erstaunen deckten die Insassen den Tisch! Ich dachte, sie hätten mit den Bestecken geklappert, um so dem Küchenpersonal anzudeuten, dass sie Hunger hatten. Doch nein, der Lärm war lediglich die Vorstufe zum Tischdecken. Sie trugen Kannen mit Milch und Körbe voller Brot herbei und verteilten Butterschalen und Marmeladengläser auf dem langen Tisch. (»Hier, reich das mal zum anderen Ende, aber lass Eamonn nicht ran.«)
»Warum deckt ihr den Tisch?«, fragte ich Mike nervös. Sie sollten bloß nicht denken, dass ich helfen würde. Ich deckte schon normalerweise nicht den Tisch, da würde ich es in meinen Ferien bestimmt nicht tun.
»Weil wir nette Leute sind.« Er lächelte. »Wir wollen Cloisters Ausgaben sparen, denn wir zahlen nicht genug.«
Meinetwegen, dachte ich, so lange man es nicht tun muss. Ich war jedoch nicht überzeugt. Das hatte möglicherweise etwas mit dem brüllenden Gelächter zu tun, mit dem Mikes Bemerkung quittiert wurde.
12
D as Abendessen war köstlich und widerlich zugleich. Es gab Pommes frites, Fischstäbchen, Zwiebelringe, grüne Bohnen und Erbsen. Unbegrenzte Mengen von allem, laut Clarence.
»Du kannst essen, so viel du willst«, erklärte er mir in verschwörerischem Flüstern. »Du musst einfach in die Küche gehen und Sadie die Sadistin fragen. Jetzt weiß sie ja, dass du süchtig bist, dann gibt sie dir, so viel du willst.«
Ich zuckte zusammen, als er sagte: »dass du süchtig bist«, doch dann gewann meine große Vorliebe für Pommes frites die Oberhand, und ich fing an, mich damit vollzustopfen.
»Seitdem ich hier bin, habe ich sechs Kilo zugenommen«, sagte er noch.
Ich spürte, wie eine kalte Hand sich um mein Herz legte und meine beladene Gabel mitten in der Luft stehenblieb, bevor ich sie mir in den Mund stecken konnte. Ich wollte keine sechs Kilo
Weitere Kostenlose Bücher