Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
waren und meinetwegen auch drogensüchtig, war ich dennoch so bürgerlich, dass ich mit Erleichterung Chris’ klare Aussprache und gute Ausdrucksweise registrierte. Es stellte sich heraus, dass er ungefähr zehn Minuten von meinem Elternhaus enfernt wohnte.
»Ich habe gehört, dass New York phantastisch ist«, sagte er. »Es ist so viel los. Tolle Theater, besonders die Off-Broadway Theaterszene.«
Ich war nicht im Geringsten seiner Meinung, aber ich war ohne weiteres bereit, so zu tun, als stimmte ich ihm exakt zu. Hauptsache, er mochte mich.
»Großartig!«, sagte ich mit gespielter Begeisterung. Zum Glück war ich erst vor kurzem mit Luke und Brigit in dieser entsetzlichen »interaktiven Installation« gewesen. Einer Art Theaterstück, das in einer ehemaligen Garage in TriBeCa stattfand. Darin wurde Körpermalerei und Piercing live auf der Bühne vorgeführt. Mit Bühne meine ich allerdings das abgeteilte Stück ölgetränkten Zementbodens, auf dem die Zuschauer nicht stehen durften.
Der Grund, warum wir überhaupt hingegangen waren, war allein der, dass Brigit sich mit einem Knaben namens José eingelassen hatte. (Die anderen sprachen das spanisch aus, aber Luke und ich nannten ihn Josie, um Brigit zu ärgern.) Josies Schwester trat in dem Stück auf, und Brigit wollte sich bei Josie beliebt machen, indem sie es sich ansah. Sie bat Luke und mich mitzukommen, damit wir ihr unmoralische Unterstützung gaben, und bot uns sogar Geld dafür. Aber das Stück war so schauderhaft, dass wir nach einer halben Stunde wieder gingen, Brigit auch. Und dann steuerten wir die nächste Bar an, ließen uns volllaufen und verfassten garstige Kritiken (»Der letzte Dreck«, »Leihen Sie der Platzanweiserin Ihre Kleider«).
Ich wehrte mich gegen das Verlustgefühl, das in mir aufkam, als ich an den Abend dachte, und bemühte mich stattdessen, Chris eine begeisterte Beschreibung von dem Stück zu liefern, indem ich Worte wie »bahnbrechend« und »erstaunlich« einwarf (das war es auf jeden Fall).
Ich war noch mitten im Redefluss, als er aufstand und sagte: »Ich sollte beim Aufräumen helfen. Ich kann das nicht alles den Jungs überlassen.«
Verdutzt sah ich mich um: Die Insassen kratzten die Essensreste von den Tellern und luden das Geschirr auf einen Servierwagen. Einer fegte den Linoleumboden. Warum taten sie das?, fragte ich mich verwirrt. Gab es in Cloisters keine Putzkolonne, die das Aufräumen besorgt? Und das Tischdecken? Taten die Insassen das wirklich nur, weil sie nette Leute waren?
Warum denn nicht?, fragte ich mich. Es gab doch nette Leute. Und ich schüttelte den Kopf, weil mein Glaube an das Gute im Menschen so gering war. Wahrscheinlich hatte ich zu lange in New York gelebt.
»Kann ich vielleicht helfen?«, fragte ich höflich. Obwohl ich das nicht wirklich meinte. Wenn sie ja gesagt hätten, wäre ich stinksauer gewesen, aber ich wusste, dass sie das nicht tun würden. Im Verein erwiderten sie: »Kommt nicht in Frage«, und: »Auf keinen Fall«. Das gefiel mir, denn sie merkten offenbar, dass ich nicht richtig dazugehörte.
Doch als ich schnell in mein Zimmer lief, um mein Make-up zu Ehren dessen, was nach dem Abendessen geschah, aufzufrischen, kam ich an der Küche vorbei. Wo Misty O’Malley einen enormen Topf auswusch. Dazu musste sie sich auf einen Schemel stellen. Obwohl ich mir nicht sicher war, dass sie sich wirklich auf einen Schemel stellen musste. Sie tat das nur, um süß und zierlich auszusehen.
Auf der Stelle tat es mir leid, dass ich nicht darauf bestanden hatte, beim Abräumen zu helfen. Ich hatte das Gefühl, dass nichts, was ich machte, richtig war. Wenn ich geholfen hätte und Misty hätte nichts getan, wäre ich mir wie ein Schleimscheißer vorgekommen, aber andersherum, da Misty geholfen und ich mich gedrückt hatte, fühlte ich mich faul und wertlos.
Deswegen nahm ich, als ich wieder runterkam, eine Butterschale vom Tisch und wanderte ziellos damit herum, bis einer der Braunen Pullover mich anhielt.
»Das brauchst du doch nicht zu machen.« Sanft nahm er mir die Butter aus meiner gebewilligen Hand.
Ich war hocherfreut. Da staunst du nicht schlecht, was, Misty O’Malley?
»Wir haben dich in Dons Team gesteckt«, fuhr er fort.
Was bedeutete das? Dons Team? War das so etwas wie Josephines Gruppe?
»Aber da heute dein erster Tag ist, brauchst du erst morgen anzufangen«, sagte er.
Sorry, keine Ahnung, wovon die Rede war.
»Aber morgen bist du dann beim Frühstück dran.
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