Rachelust - Der sechste und letzte Fall für Nora und Tommy
wenn mir das momentane Leben auch zusagt? Klar, mit der passenden Dame winkt die Aussicht auf ein noch schöneres Leben. Aber ist es nicht genau dieser Punkt, der viele Menschen ins Unglück stürzt? Nehmen Sie nur einmal einen Kasinobesucher. Jemand gewinnt einhundert Euro und freut sich riesig darüber. Dann erhält er die Möglichkeit, bei der nächsten Spielrunde fünfhundert Euro zu gewinnen. Über diesen Betrag würde er sich ohne Zweifel noch mehr freuen. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich noch einmal zu gewinnen?“
„Das Prinzip leuchtet mir ein. Allerdings können Sie das Leben und die Liebe schwerlich mit einem Kasinobesuch vergleichen.“
„Der Vergleich mag weit hergeholt sein. Das gebe ich zu. Dennoch läuft beides auf denselben Punkt hinaus: Die Aussicht auf einen Gewinn verleitet viele Menschen dazu, ein Risiko einzugehen. Dabei wird der mögliche Verlust aufgrund des greifbaren Erfolgs beiseite geschoben. Die Gewinner lassen sich aber an einer Hand abzählen, während sich die Zahl der Verlierer ständig vergrößert.“ Er trank einen Schluck Wein. „Ich möchte damit nur sagen, dass ich gelernt habe, den Versuchungen des Lebens zu widerstehen. Sie wissen, dass ich viel Geld besitze. Wer garantiert mir nun, dass es eine Frau nicht nur darauf abgesehen hat, wenn sie eine Beziehung mit mir eingeht? Menschen können sich perfekt verstellen. Über Jahre hinweg. Somit würde ich am Ende ohne alles dastehen. Ohne Frau, ohne Geld, ohne Selbstachtung.“
„Ich schätze, so ergeht es den meisten wohlhabenden Menschen. Das ist der Fluch des Reichtums. Deswegen sollten Sie sich aber nicht der Liebe verschließen.“
„Ich sehe das anders.“ Hans stellte das Glas auf den Tisch und tupfte sich den Mund ab. „Aber wir sollten nicht weiter über dieses Thema reden. Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich gerne mehr über Sie erfahren. Wie gefällt Ihnen Göttingen? Sind Sie dort aufgewachsen?“
Nora nickte. „Ich wurde dort geboren und habe mich nie von der Stadt losreißen können.“
„Und ist es immer Ihr Wunsch gewesen, bei der Polizei zu arbeiten?“
„Nicht direkt. Erst mit sechzehn, siebzehn Jahren habe ich allmählich darüber nachgedacht. Ursprünglich wollte ich nach dem Abitur Biologie studieren. Aber irgendetwas in mir rebellierte gegen diesen Plan. Es verlangte nach einer körperlichen Herausforderung. Zudem wollte ich etwas Gutes tun. Ich wollte, dass meine Taten etwas in der Gesellschaft bewirken.“
„Ist die Realität in diesem Beruf denn so, wie Sie es sich vorgestellt hatten?“
„Nicht ganz. Ich bin zu blauäugig an die Sache herangegangen. In meiner Vorstellung habe ich die bösen Jungs gejagt und in den Knast gesteckt. Ich habe alten Damen geholfen, die überfallen wurden. Ich habe Menschen beigestanden, die einen Angehörigen verloren hatten. Aber der Alltag holte mich schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Papierkram, zähe Ermittlungen, heftige Beleidigungen, eine Sackgasse nach der anderen. Das kann ziemlich entmutigend sein.“
„Dennoch haben Sie sich durchgeboxt.“
„Es gab einige Momente, die mich nahezu verzweifeln ließen. Und ich spreche jetzt nicht einmal von den schlimmen Ereignissen der letzten zwei Jahre. Schon vor acht Jahren musste ich in einem unvorstellbaren Mordfall ermitteln. Es stellte sich heraus, dass eine Mutter ihr eigenes Baby ertränkt hatte. Sie war alleinerziehend und völlig verzweifelt gewesen. Die näheren Umstände möchte ich gar nicht erst darlegen, aber dieser Fall hat mir zum ersten Mal die schonungslose Realität vor Augen geführt. Es gab niemanden, dem ich hätte helfen können. Das Kind war tot. Die Mutter wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Den Vater interessierte das alles nicht. Ich saß damals mehrere Wochen lang in meinem Büro und habe mich gefragt, ob das wirklich der Job ist, den ich für immer machen möchte. Dieses Drama hat mir meine Grenzen aufgezeigt. Meine psychischen Grenzen. Es fühlte sich auf einmal alles so sinnlos an. Die Mutter war sich nicht einmal ihrer Schuld bewusst. Sie lebte in einer komplett anderen Welt. Dieser abgrundtiefe Charakter lässt sich nicht in Worte fassen.“
„Wie haben Sie es geschafft, trotzdem weiterzumachen? Woher haben Sie die Kraft und das Durchhaltevermögen genommen?“
„Ich wollte allen beweisen, dass ich es packen kann. Niemand sollte mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: ‚Ich habe es doch gewusst, der Job ist zu hart
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