Rachelust - Der sechste und letzte Fall für Nora und Tommy
für dich’. Es wäre sicherlich leicht gewesen, aufzugeben und somit die Last von den Schultern zu nehmen. Aber ich brauche einen gewissen Druck, um mich persönlich weiterzuentwickeln. Dieser Druck hat mich vorangetrieben. Immer weiter. Bis ich es schließlich zur Hauptkommissarin gebracht hatte.“ Sie sah auf ihren Teller hinab. „Wenn ich mir einmal etwas in den Kopf setze, dann ziehe ich es durch. In manchen Situationen ist das negativ, in anderen positiv. Im Fall der beruflichen Entscheidung überwiegt die positive Überzeugung, trotz der Tatsache, dass ich einen Menschen getötet habe. Die vergangenen sechs Tage haben mich darin bestärkt, wieder den Dienst anzutreten. Ich kann nicht einfach aufgeben, nur weil ich etwas Schreckliches erlebt habe. Das wäre feige. Außerdem würde ich dadurch meine Kollegen im Stich lassen.“
Hans nickte verständnisvoll. „Apropos Kollegen. Haben Sie einen festen Partner? So wie es in den TV-Serien dargestellt wird? Oder wie ist das bei Ihnen geregelt?“
„Es ist Vorschrift, immer zu zweit zu ermitteln. Im Notfall können wir uns so den Rücken freihalten. Alleine hätte man gegen Schwerkriminelle keine Chance.“
„Und sind Sie zufrieden mit Ihrem Partner?“
„Auf jeden Fall. Er heißt Thomas. Wir arbeiten schon ewig und drei Tage zusammen. In manchen Situationen wäre ich ohne seine Hilfe aufgeschmissen gewesen. Dabei ist es eigentlich seltsam, dass er und ich ein gutes Team bilden. Denn im Privatleben sind wir komplett unterschiedlich. Ich brauche Disziplin und Sicherheit. Er lebt einfach so in den Tag hinein. Ihn kümmert es nicht, was morgen passiert. Er ist einer der glücklichen Menschen, die den Augenblick festhalten können. Ich mache mir hingegen immer Gedanken. Mein Gehirn steht nie still. Stets schaue ich einen Schritt voraus, um nichts dem Zufall zu überlassen. Es ist schon ironisch, dass ausgerechnet in meinem Umfeld immer wieder Dinge geschehen, die ich nicht beeinflussen kann.“ Sie änderte ihre Sitzposition. „Hin und wieder glaube ich, dass ich Thomas’ Einstellung übernehmen sollte. Sorglos und unbeschwert den Moment einfangen. Aber das kann ich nicht. Selbst wenn ich es versuchen würde, könnte ich nicht so leben. Jedenfalls nicht auf Dauer.“
„Sie sind anders gestrickt. Das ist vollkommen in Ordnung. Das Schlimmste wäre es, sich gegen Ihre eigene Natur zu wenden. Sich selbst zu verleugnen, nur um einem Problem aus dem Weg zu gehen, hätte keine Zukunft.“
„Das passt sehr gut zu dem, was Sie eben über das Risiko erzählt haben. Es ist eine große Versuchung, den lockeren Lebensstil meines Kollegen zu übernehmen. Aber das Risiko besteht darin, mich zu sehr zu verändern. Deshalb bleibe ich lieber so wie ich bin. Und dazu gehört auch mein Job.“
„Aber könnte es nicht sein, dass er Ihnen gar nicht so sehr fehlt?“
„Wie meinen Sie das?“
„Vielleicht erhoffen Sie sich nur etwas von Ihrer Arbeit, das Sie nicht anders bekommen können.“
„Meinen Lebenssinn.“
„Darauf wollte ich nicht hinaus. Meine Vermutung ist, dass Sie sich in Ihren Job fliehen, um nicht ständig an den Mist zu denken, der Sie bedrückt. Denn tief in Ihrem Inneren merken Sie, dass Sie ihn nicht loswerden. Nicht einmal hier. Habe ich recht?“
Noras Kehle zog sich zusammen. Mit einem Mal fühlte sie sich überaus unwohl. „Wenn man bedenkt, dass Sie mich erst seit wenigen Stunden kennen, dann ist das eine ziemlich gewagte Behauptung.“
„Ich kenne Sie zwar erst seit kurzer Zeit. Aber da ich Mitte vierzig bin, kenne ich die Menschen schon etwas länger. Und es gibt bestimmte Stereotype, die sich immer wiederholen. Sie sind eine starke Frau, Nora. Das merke ich Ihnen an. Ihre Körpersprache, Ihr Auftreten, Ihre Äußerungen. Alles deutet auf eine gefestigte Persönlichkeit hin. Aber das Problem bei Leuten wie Ihnen liegt darin, dass Sie alles mit Ihrer Stärke beherrschen wollen. Niemand soll sehen, dass Sie auch Schwächen und Gefühle haben. Das würde nicht in Ihr Image passen. Deshalb suchen Sie sich einen Anker im Leben, der Sie von den negativen Dingen fernhält. Bei Ihnen ist das offenbar die Arbeit.“
Nora kratzte sich am Daumen ihrer linken Hand. „Ich möchte nicht weiter über dieses Thema sprechen, okay?“
„Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
„Tatsächlich nicht?“
„Nein, ich möchte Ihnen helfen. Und das kann ich, weil ich weiß, worum es hier geht. Auch ich kann meinen damaligen Job nicht ganz
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