Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
wenn Harrie nicht zurückkommt, wird Huggler nervös werden. Und wenn ihn die Angst umtreibt, wird er sich womöglich aus seinem Versteck wagen und uns irgendwo in die Arme laufen. Andererseits, wenn er vor Panik ausflippt, werden noch mehr Menschen sterben. Ein waffenstrotzender Irrer ist das Letzte, was ich jetzt brauche.«
Gleichgewicht. Ungleichgewicht.
Balance. Wiederherstellen.
Meine Gedanken überschlugen sich – und kamen dann schlagartig zum Stillstand.
Eine warme Welle der Klarheit durchspülte mich. Das penetrante Ticken in meinem Hirn war endlich verstummt.
Er sagte: »Du warst gerade ganz weit weg.«
»Was du gerade über Gleichgewicht gesagt hast, hat mich an etwas erinnert, das ich aus Harries Mund gehört habe, als ich damals bei ihm war. Er fragte mich über meine Arbeit für die Polizei aus und behauptete dann, dass ihn die dunkle Seite des Lebens überhaupt nicht reize. Er sprach von ›schrecklichem Ungleichgewicht der Kräfte‹. Dass das glatt gelogen war, ist inzwischen offensichtlich. Ich denke, er hat mit mir gespielt, indem er offen aussprach, was von Beginn an sein Motiv für die Morde war: die Vergangenheit symbolisch ungeschehen machen, um ein Gegengewicht zu bilden, eine Balance wiederherzustellen. Vielleicht hilft dieser Gedanke dabei, die Suche nach Huggler einzugrenzen: auf den Ort, an dem alles begann.«
»V-State«, sagte er. »Würden die beiden tatsächlich dorthin zurückgehen?«
»Wenn es zu dem Behandlungsplan passt, den sich Harrie für Huggler ausgedacht hat.«
»Du hast vorhin gesagt, er hat mit seiner Therapie Hugglers Metzgerspielchen gefördert.«
»Stimmt, aber dabei habe ich etwas übersehen. Harrie hat sich irgendwann wirklich für einen Therapeuten gehalten. Wie die meisten Psychopathen hatte er ein übersteigertes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten. Er fand es gar nicht nötig, tatsächlich einen Abschluss zu machen, schließlich war er auch so schlauer als die echten Seelenklempner. Er musste sich nur noch ihren Jargon aneignen, um die Rolle glaubhaft zu verkörpern. Und als es ans Praktizieren ging, stieg er gleich ganz oben ein, mit einer Top-Adresse in einem Nobelviertel. Er hatte sich auf Gutachten für Versicherungen spezialisiert, weil sie gut bezahlt und trotzdem überschaubar sind, weil sie wenig Aufwand bedeuten und keine medizinischen Konsequenzen haben. Die Patienten waren nie lange genug bei ihm, um misstrauisch zu werden, und er musste nie wirklich jemandem helfen.«
»Vita wurde misstrauisch.«
»Vielleicht hat sie was gespürt«, sagte ich. »Oder sie war einfach sie selbst. Aber wie dem auch sei – Harrie ist mit seiner Masche durchgekommen, das muss ein gewaltiger Durchmarsch für sein Ego gewesen sein, der ihn irgendwann zu dem Schluss kommen ließ, dass er tatsächlich ein genialer Therapeut sei – mit einem einzigen Langzeitpatienten. Ja, in den letzten fünf Jahren ging es um blutrünstige Rache, aber das Ganze war auch Teil eines Heilplans, den sich Harrie für Huggler ausgedacht hatte: durch das Aufarbeiten alter Traumata jegliche Unwucht in dessen Leben zu beheben. Und wie wäre das wohl besser zu verwirklichen als mit einer triumphalen Rückkehr an den Ort, wo ihm die Kontrolle einst entrissen wurde?«
»Halsumdrehen und Bauchaufschlitzen als Ausdruck von Selbstverwirklichung, wie schön«, sagte Milo. »Die Klinik wurde schon vor Jahren geschlossen. Was ist dort jetzt?«
»Finden wir’s heraus.«
Milo tippte drauflos. Augenblicke später hatten wir dank eines Denkmalschutzvereins einen Überblick über die Geschichte der Anlage: Ursprünglich war geplant gewesen, die Klinikgebäude zu erhalten und in eine Hochschule umzuwandeln. Das Vorhaben scheiterte am Geldmangel; vor sechs Jahren dann erwarb eine Gruppe privater Investoren in einem zwielichtigen Amigo-Deal das Gelände und errichtete eine Wohnanlage namens SeaBird Estates.
Milo fand die Website. »Wohnen für gehobene Ansprüche? Das hört sich nicht so an, als würden unsere Jungs da reinpassen.«
Ich scrollte weiter. »Es heißt hier auch: ›umgeben von Wäldern‹. Im Wald könnten unsere Jungs leicht einen Unterschlupf gefunden haben.«
Er sprang auf die Beine, stieß seine Bürotür auf, tigerte mehrmals den Flur auf und ab und kam dann wieder herein.
Mit zwei Händen bildete er einen Rahmen vor seinem Gesicht, durch den er hindurchblickte. Sein pantomimisches Talent war zweifellos bescheiden.
»Bestes Ausflugswetter heute, komm, wir fahren ins
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