Rachmann, Tom
sie im Stehen. Sie stellt sich auf die
Zehenspitzen, setzt die Schere an und reicht ihm das erste amputierte Büschel.
»Macht irgendwie Spaß, ehrlich gesagt.« Sie schnippelt das nächste Büschel ab.
Die ausrangierten Locken türmen sich auf dem Boden wie Holzspäne. Jetzt, wo sie
freiliegen, hat er abstehende Ohren, wie ein Kaninchen. Er hält den Spiegel
hoch. Er zeigt sie beide: Rory, wie er seinen geschorenen Kopf mustert, sie,
wie sie ihn mustert. Er grinst ihr zu, und sie muss lachen, dann sieht sie ihr
eigenes Gesicht, prallt zurück und schüttelt sich Haare von den Schultern.
»Finden Sie sich so okay?«
»Sieht klasse aus. Vielen,
vielen Dank. Mein Kopf fühlt sich so leicht an.« Er schüttelt ihn wie ein
nasser Hund. »Ich glaub, ich finde Ausgeraubtwerden allmählich gar nicht mal so
übel - ich hab mein Zeug wieder, und die Haare hab ich auch umsonst geschnitten
gekriegt.«
»Schön für Sie vielleicht. Ich
habe meine Sachen nicht alle wieder.«
Am nächsten Morgen wacht Hardy
mit dem Gedanken an Rory auf. Mittags schickt sie ihm eine SMS. Danach guckt
sie jedes Mal, wenn irgendwo ein Handy klingelt, auf ihres. Aber er ist es nie.
Sie bereut die peinliche Nachricht, die sie ihm geschickt hat (»Ich habe immer
noch Ihre Unterwäsche!«), und hofft im Stillen, dass er sie nie gekriegt hat.
Nach ein paar Stunden hält sie die Warterei nicht mehr aus und ruft noch einmal
an. Er geht tatsächlich dran und verspricht, später »vorbeizukommen«.
Um Mitternacht ist er immer
noch nicht aufgetaucht. Wieder ruft sie an, wieder keine Antwort. Um kurz vor
eins steht er plötzlich grinsend vor ihrer Tür. Sie sieht demonstrativ auf die
Uhr. »Ich hole jetzt Ihr Zeug«, sagt sie. »Wird ein bisschen kalt, wenn Sie die
Tür so offen lassen.«
»Soll ich denn reinkommen?«
»Wäre besser.« Sie holt die
Plastiktüte mit seiner Unterwäsche. »Sind hoffentlich nicht Ihre einzigen.«
»'türlich nich.« Er schnappt
die Tüte. »Hab mich zuerst gewundert, dass einer meine Unterhosen klauen will.
Aber offensichtlich sind die ziemlich beliebt.«
»Okay, also, das wär's dann
wohl. Oder - äh, wollen Sie was trinken oder so?«
»Jaaa, tolle Sache, klar.
Wunderbar.«
»Ich hab auch was zu essen.
Wenn Sie mögen.«
»Super, super.« Er folgt ihr
in die Küche.
Sie öffnet eine Flasche Valpolicella
und wärmt die Kasserole mit der Lasagne auf, die sie eigentlich mit in die
Redaktion nehmen wollte. (Hardy kocht sehr gut und immer Unmengen, isst aber
nie selbst was - sie weiß ja, was an Butterklumpen, Zuckerbergen, Hektolitern
Sahne in der jeweiligen Mischung steckt und nur darauf wartet, sich auf ihren
Hüften abzusetzen. Und so landen alle ihre Kreationen - der Schiefe Turm von
Pasta, die Seattle-Swirl.com-Kringel, die Lachs-Pasteten mit Sesamkruste und
Zitronen-Estragon-Sauce - in der Redaktion, als Angebot für die Kollegen,
gedankenlos weggeknabbert von Textredakteuren, über den Boden gekrümelt,
während Hardy von ihrem Schreibtisch aus zusieht und sich nur von den
Lobeshymnen ernährt.)
Rory schlingt die Lasagne
herunter, schüttet sich fast den ganzen Wein rein und erzählt, und zwar alles
gleichzeitig. »Wunderbar. Super.« Er erzählt von seinem Vater, der in einem
Vorort von Dublin eine Klempnerfirma hat, und von seiner Mutter, die Sekretärin
in einer Firma für Medizinbedarf ist. Er selbst hatte mal kurz studiert, die
Uni aber ohne Abschluss geschmissen und lieber Australien, Thailand und Nepal
bereist. Von da ging er nach New York. Jobbte in Kneipen, machte einen Kurs für
Comedy-Improvisation und trat im East Village bei Open-Mike-Gigs auf. Dann
reiste er kreuz und quer durch Europa, nahm ein Schiff von Marseille nach
Neapel, blieb ein paar Monate in Süditalien und schlug sich schließlich nach
Rom durch.
Sie schenkt ihm nach. »Ich würde
mich nie trauen, jemanden in irgendwas zu unterrichten. Nicht, dass ich dazu
überhaupt qualifiziert bin. Schon gar nicht in einem fremden Land. Das ist ganz
schön mutig.«
»Oder schlicht blöd.«
»Mutig«, beharrt sie.
Er will wissen, was sie
arbeitet. »Ich geb's ungern zu«, sagt er dann, »aber ich hab im Leben kaum je
Zeitung gelesen. Ist alles so klein, ne?«
»Klein?«
»Die Schrift. Ihr müsstet 'ne
größere Schrift nehmen.«
»Hm«, sagt sie, »kann sein.«
»Und was schreibst du so,
Hardy?«
»Wirtschaftssachen.« Sie nimmt
einen Schluck Wein. »Sorry, ich kann beim Trinken nicht mithalten.«
»Würdest du bei mir auch gar
nicht
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