Rachmann, Tom
»Ich bin dir nicht
mehr böse.«
Sie schnappt sich ein Taxi.
Während der Fahrt in Richtung Innenstadt widmet sie sich ihrem BlackBerry, auf
dem eine Nachricht von Menzies nach der anderen drängt: »General Abizaid bei
Senatsanhörung zum Irak. Aufmacher?? Ruf an, bitte!« Dario - der sechs Jahre
ihres Lebens neben ihr eingeschlafen und aufgewacht ist - ist längst aus ihren Gedanken
verschwunden. Sie kann nicht anders: Sie ist eine Vollblutjournalistin, und er
ist keine Titelstory mehr. Wann hat man eigentlich mal Zeit, über irgendwas
nachzudenken?, geht es ihr durch den Kopf. Aber nicht mal für eine Antwort darauf
hat sie Zeit.
In der Redaktion geht sie durch
alle Ressorts und beratschlagt die morgige Ausgabe. Sobald sie da ist, reißen
Gespräche ab, gucken Leute dumm aus der Wäsche, geht hektisches Telefonieren
los, das längst hätte erledigt sein sollen. Die Nachmittagskonferenz ist eine
Farce. Die üblichen Verdächtigen kommen hereingetröpfelt und setzen sich an
den ovalen Redaktionstisch. Kathleen hört zu. Redet dann selbst. Nicht schrill
- das ist sie nie. Sie spricht immer wohldurchdacht und ätzend. Gibt Anweisungen,
schließt mit »Alles klar?« und schreitet aus dem Newsroom.
Ihr Hauptverbündeter - der
Einzige in der Redaktion, den sie für intellektuell ebenbürtig hält - ist
Herman Cohen. Bei ihrer Ankunft wartet er schon in ihrem Büro. Sie bleibt kurz
an der Tür stehen, hält sich spielerisch die Hand vor Augen, um ihn nicht zu
sehen, und tritt dann hinein, die Zeigefinger gekreuzt, als wäre er ein Vampir.
»Bitte nicht.«
»Du willst ihn, und du weißt
es.« Er gibt ihr die aktuelle Ausgabe seines internen Newsletters Warum ?, in dem er regelmäßig Zeitungspatzer auflistet.
»Sonst alles in Ordnung, meine Liebe?«, fragt er.
»Da ist man mal einen Morgen
weg, und schon wird die Zeitung zum Affenkäfig.«
»Du redest schon wie ich.«
»Und ich werde mit E-Mails von
Miss Buchhaltung bombardiert«, fährt sie fort. Sie meint Abbey Pinnola, in der
Geschäftsleitung zuständig für die Finanzen. »Vermutlich zwingt die mich
demnächst zu Menschenopfern.«
»Sie
will jetzt doch Leute entlassen?«
»Scheint
so. Keine Ahnung, wie viele.«
»Technik
oder Redaktion?«
»Wird sich zeigen. Wen aus der
Redaktion würdest du denn nehmen?«
Ganz oben auf Hermans
persönlicher Liste steht Ruby Zaga, sie redigiert notorisch Fehler in anderer
Leute Geschichten.
»Ist
sie denn wirklich die Schlimmste?«, fragt Kathleen. »Ach, Ruby ist ja eine
Freundin von dir.«
»Freundin
wohl kaum. Können wir Clint Oakley nicht feuern?«
»Irgendwer muss die Rätsel-Brezel bauen, meine Liebe.«
»Ich werde Miss Buchhaltung
sagen, dass ich über Kündigungen erst nachdenke, wenn ich Geld für einen Lokalreporter
in Kairo kriege, plus Ersatz für Lloyd in Paris.«
»Gute
Idee. Halt die Ohren steif.«
»Es ist mir unbegreiflich«,
sagt Kathleen, »wie Abbey dazu kommt, eigene Leute in Kairo und Paris als Luxus
zu deklarieren. Was ist denn daran Luxus? So wie die Dinge liegen, ist es der
reine Luxus, über Redaktionsinhalte zu diskutieren. Ich bin doch nur noch damit
beschäftigt, Lücken zu füllen. Das ist wirklich kein Vergnügen ...«
»Du
solltest delegieren lernen.«
»Wem
denn?«
»Wie
bitte?«
»An
wen denn«, korrigiert sie sich. »Ich dachte, ich delegiere schon alles
Mögliche an dich. Bist du nicht dazu eingestellt, um mir zu helfen?« Sie meint
es ernst, muss es aber als Scherz tarnen - Herman ist eine Institution, und sie
darf nicht riskieren, ihn zu verprellen.
»Ich bin delegiert, dafür zu
sorgen, dass die nie ausgehen.« Er schüttelt eine Tüte Bonbons vor ihren
Augen.
Als sie die Glastür ihres
Büros hinter ihm schließt, sehen ein paar der Nachrichtenredakteure kurz
herüber und gleich wieder weg. Chefsein ist irgendwie komisch, weil man genau
weiß, dass alle über einen reden, einen auseinandernehmen, einen nicht leiden
können und - schließlich sind es Journalisten - über einen jammern, giften und
meckern.
Das BlackBerry klingelt.
»Menzies«, seufzt sie, »wieso rufst du an? Ich bin direkt gegenüber.« Sie reißt
die Hand hoch.
»Entschuldige, entschuldige -
hab dich nicht gesehen. Kommst du mal rüber? Wir brauchen dich.« Sie gehorcht.
An diesem Abend hat Nigel
Ossobuco gekocht.
»Riecht wunderbar«, sagt sie,
als sie endlich nach Hause kommt, wie üblich später als versprochen.
In der Wohnung an der Via
Nazionale wäre genug Platz für eine Großfamilie,
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