Radikal führen
Zusammenarbeit. Sie mag wünschbar klingen, Zustimmung heischen, manchmal gar gefordert werden. Aber wichtig wird sie erst, wenn eine Antwort gegeben wird auf die Frage: »Und wenn nicht, was dann?« Sollsätze erzeugen ihre gestaltende Kraft erst, wenn man sie mit einer Antwort auf diese Frage ergänzt. Was sind die Konsequenzen, wenn Sie sich nicht nach ihnen richten? Welchen Preis haben Sie zu zahlen? Kein »Star« darf sich über die Regeln erheben – wenn er sie gebrochen hat, ist ein Preis fällig. Wenn jedoch kein Preis zu zahlen ist und es keine Instanz gibt, die ihn einklagt, dann brauchen Sie von Zusammenarbeit ernsthaft nicht zu sprechen. Konkret: wenn die Unternehmenskultur Egoisten unbehelligt lässt. Ein ängstlicher Schiedsrichter, der sich nicht zu pfeifen traut, schwächt auch die Regeln. Er macht sie unsichtbar. Erst werden sie »weich« interpretiert, dann nur noch »ausnahmsweise« eingeklagt, irgendwann verblassen sie ganz. Stellen Sie sich vor, die Regeln für das Fußballspiel sähen nur gelbe Karten vor, keine roten.
Um es deutlich zu sagen: Es ist Führungsaufgabe, Anwesenheitsverhinderungen zu organisieren. Sie als Führungskraft müssen bereit und fähig sein, den Kooperationsvorrang auch durch den Ausschluss von Mitarbeitern durchzusetzen. Wenn Zusammenarbeit nicht mit der Beendigung des gemeinsamen Weges beleumundet werden kann, ist sie nicht wichtig.
Womit wir beim Individuum wären.
Individuum
Das Anderssein des Anderen
Warum hat »Zusammenarbeit ermöglichen« so selten die Aufmerksamkeit, die dieser Aufgabe gebührt? Warum nennt sie kaum jemand, wenn man über die Kernaufgaben der Führung spricht? Weil sie so unsexy ist. Entscheidungen treffen, Strategien entwickeln, Visionen realisieren, ja, das klingt gut. Aber »Zusammenarbeit organisieren«? Zudem ist es genau diejenige Disziplin, die meiner Erfahrung nach die Führungskräfte am wenigsten beherrschen.
Welche individuellen Voraussetzungen aber sollten Sie mitbringen, wenn Sie der Zusammenarbeit Vorrang einräumen wollen?
Beginnen wir noch einmal mit der »Gründungs«-Situation: Sie sind der Boss, Sie haben Ziele, Sie suchen Mitarbeiter. Sie schalten eine Anzeige, jemand liest sie, meldet sich, öffnet die Tür, betritt den Raum. Was sehen Sie? Sehen Sie eine andere Person? Nein, was Sie in diesem Augenblick reflexhaft sehen, ist eine Differenz. Und diese Differenz ist meistens negativ. Der Andere ist so – anders. So gar nicht so wie Sie. Er ist Ihnen kein bisschen ähnlich. Er sieht anders aus, verhält sich anders, hateine andere Geschichte, einen anderen kulturellen Hintergrund. Sie können ihm nicht hinter die Stirn schauen. Sie wissen nicht, ob er sagt, was er meint, und meint, was er sagt. Es ist unsicher, ob er sich an Absprachen hält, sich mit ganzem Herzen einsetzt, ob er fähig ist, Ihnen zu helfen – oder ob er Ihnen gar heimlich schaden will. Mit ihm zu arbeiten ist also riskant.
Was hier angesprochen ist, ist das Anderssein des Anderen. Sein Eigensinn, seine Beharrungsenergie, die Unverfügbarkeit seines Innenlebens, seine individuellen Motivationen, so viel Ich! Die Frage, die sich unter dem Kooperationsvorrang für Sie als Führungskraft stellt: Erleben Sie das Anderssein des Anderen als Bedrohung? Oder als Bereicherung? Wollen Sie es verändern? Oder können Sie es nutzen?
Fragen, die sich heute in aller Schärfe stellen, mehr noch als früher. Das internationale Zusammenwachsen der Märkte, der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte sowie die Zunahme grenzüberschreitender Fusionen hat die Mitarbeiterschaft heterogener werden lassen. Zu den Unterschieden von Geschlecht, Alter und Bildung gesellen sich jene der Nationalitäten, Hautfarben und Kulturen. Wenn Sie als Person sehr angstbesetzt sind, werden Sie diese Unterschiede als bedrohlich erleben. Dann werden Sie das Verhalten des neuen Mitarbeiters prognostizierbar machen wollen, es kanalisieren. Dann greifen Sie zum Mittel der Macht: Sie überziehen den anderen mit einem Netz aus Vorschriften, Kontrollen und Fluchtverhinderungssystemen. Oder aber Sie wählen das Steuerungsmittel Geld und lenken sein Verhalten durch Boni und Incentives. Oder Sie folgen Ihrem heimlichen Hang zum Menschenverändern und lassen ihn psychosozial betreuen (»Coaching«).
Als Führungskraft sollten Sie aber unter dem Kooperationsvorrang vor allem Menschen mögen. Sie sollten der Interaktion den Vorrang vor der Sachbearbeitung geben. Sie sollten die Fähigkeit besitzen,
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