Radikal führen
Ereignisse, die aus dem Handeln entstehen,kontingent sind. Ihr Entstehen ist weder notwendig noch prognostizierbar, es geschieht auf der Basis des zufälligen Zusammenspiels komplexer Einflussfaktoren. Regelmäßigkeiten sind daher bei komplexen Zusammenhängen wie jenen im Unternehmen eher unwahrscheinlich. Die meisten Herausforderungen für das Management sind also nicht kompliziert, sondern komplex.
Das ist der Unterschied zwischen einem komplizierten System und einem komplexen: Ein Flugzeug ist zwar kompliziert, aber doch linear entwickelt. Man kann es daher relativ präzise steuern; Ursache und Wirkung sind nachvollziehbar aufeinander bezogen. Bei einem komplexen System hingegen sind Ursache und Wirkung kaum präzise zuzuordnen, es gibt zu viel Überraschendes, nicht Vorhersehbares – die berühmten Übersteuerungseffekte oder auch Kippeffekte, die nicht-linear auftreten und sich nicht prognostizieren lassen. Bekannt und gut untersucht sind diese Effekte beim Klimawandel. Hier kommen Veränderungen nicht auf dem Schleichweg, sondern überraschend, abrupt und gravierend.
Das Problem für Unternehmen ist: Manager, die sich eigentlich als Betriebs-Ingenieure verstehen, sind sehr erfolgreich in der Beherrschung komplizierter Systeme. Deshalb glauben sie, auch komplexe Systeme ließen sich mechanistisch steuern. Sie übertragen einfach die Erfolgsrezepte des Umgangs mit Kompliziertheit auf Komplexität. Und das geht eben oft schief.
Was folgt?
Gesetzt den Fall, es gäbe Rezepte, die Erfolg garantieren. Sollten Sie ihnen folgen? Verständlich ist die Neigung, zu übernehmen, was woanders zu funktionieren scheint. Aber: Überragende Leistungen erzielen Sie so niemals. Sie sind allenfalls gleich gut oder gleich schlecht wie der Wettbewerb. Denn ein bekannter Erfolgsfaktor ist keiner mehr. Er ist allenfalls »metoo«. Das Original ist aber immer besser als die Kopie. Also gilt: Sie müssen besser sein durch Anderssein. Differentiate or die! Als beraterinduzierter Organisationsklon macht Ihr Unternehmen am Markt jedenfalls keinen Unterschied. Mehr noch, Sie verlieren das Wichtigste: die Achtsamkeit. Wenn Sie sich auf Erfolgsrezepte verlassen, wähnen Sie sich in Sicherheit. Und dann werden Sie unaufmerksam. Sie erzeugen genau das, was Sie doch vermeiden wollten: Unsicherheit. Meiner Beobachtung nach kommen vor allem jene Unternehmen in Schwierigkeiten, die nicht dem eigenen gesunden Menschenverstand vertrauen, sondern den Erfolgsbeispielen anderer Unternehmen hinterherhecheln. Und jene, die zu lange an den eigenen Erfolgsrezepten festhalten.
Der Hauptgrund dafür: Im Wettbewerb ist es der schlimmste Fehler, berechenbar zu sein. Man spricht von Situationen doppelter Kontingenz: Zwei Wettbewerber können sich so verhalten, wie sie sich verhalten – aber sie können auch anders. Sie kennen das, wenn Sie auf der Autobahn eine Staumeldung erhalten. Dann überlegen Sie: Soll ich die Autobahn verlassen und über Landstraßen weiterfahren? Aber wenn das alle machen? Dann wären die Landstraßen verstopft und die Autobahn wäre wieder leer. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass alle so überlegen und vielleicht genauso kalkulieren – wäre dann nicht doch die Landstraße ...? Wer diese Situation im Wettbewerb zu seinen Gunsten asymmetrisieren kann, hat einen Vorteil. Zumindest kurzzeitig. Wer hingegen eine »Erfolgsstory« hat, wird berechenbar. Dessen Verhalten kann man antizipieren.
Was folgt daraus, was wäre die richtige Strategie? Nicht strategiehörig sein! Das richtige Verhalten in Situationen doppelter Kontingenz ist die völlig zufällige Entscheidung. Oder auch, und das wird immer wichtiger: mal so und mal so. Das wird nur auf der Tribüne gar nicht gern gesehen, weil es so unordentlich, so wenig planvoll, fast anarchisch aussieht. Die Tribüne aber sollte wissen: Es gibt die störende Kontingenz,aber auch die hilfreiche. Wie sonst ergäben sich Marktchancen? Und aus der Terrorabwehr wissen wir: Unberechenbarkeit ist die langfristig erfolgreichste Strategie.
Die Möglichkeit des Erfolgs liegt also in der Aufgabe der Idee, man müsse nach einem Erfolgsrezept suchen. Man kommt dann möglicherweise zu der Einsicht, dass die Suche allein am Nichtfinden schuld war. Die Lebensphilosophie ruft uns zu: Das Leiden lässt sich oft gerade dadurch heilen, dass man die Suche nach Patentlösungen aufgibt. Und kein scheinbares Patentrezept entbindet uns von der Verantwortung zu entscheiden. Das ist ein Schritt ins Offene.
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