Radio Miracoli und andere italienische Wunder
vielleicht klappt es. Holt mir eine Straßenkarte, und ich zeige euch die genaue Stelle, wo ihr die Jacke hinlegen müsst. Das ist die Gebietsgrenze befreundeter Clans. Die respektieren einander. Damit könnte man die Sache hinauszögern, und womöglich fühlt sich dann keiner für den Toten zuständig.«
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Die untergehende Sonne taucht den Himmel in ein Orangerot, das an den Rändern der wenigen, vom Wind lang gezogenen Wolken in ein helles Purpur übergeht. Das Schauspiel währt nicht lange, vielleicht zwei Minuten. Normalerweise würde ich um diese Uhrzeit im Laden stehen und einem Kunden die raffinierte Verarbeitung der Ledersitze erklären, während sich hinter unserem Rücken dieses prachtvolle Spektakel abspielt. Gewisse Entscheidungen mag man nicht mehr rückgängig machen.
Zärtlich streicht Elisa mit der Hand über das Gras, nur einen Zentimeter von der meinen entfernt. Nichts ist leichter, als diese Entfernung zu überwinden.
»Willst du mir weismachen, dass du mich zufällig berührst?«, sagt Elisa.
»Musst du immer alles zerstören?«
»Wenn du unter mehr Realität Zerstörung verstehst …«
»Ich meine damit, dass du manchmal auch eine unbeholfene Geste als romantisch interpretieren könntest. Eventuell könntest du sogar auf die Idee kommen, dass dies ein elementares Bedürfnis meinerseits ist, und zwar seit der Grundschule. Niemand würde sich im Traum einfallen lassen, die unschuldige Geste eines Kindes in den Dreck zu ziehen.«
»Okay, okay, ich ziehe sie ja gar nicht in den Dreck.«
»Und wenn du es genau wissen willst – ja, ich berühre dich mit voller Absicht. Und zwar deswegen, weil ich wissen will, ob dir so etwas Freude macht. Und ich warte auf eine Reaktion von dir, meinetwegen eine kaum wahrnehmbare Geste, die ich als ja oder nein interpretieren kann. Das ist der Reiz des Ungewissen, die Vorfreude.«
»Ja.«
»Ja, was?«
»Das ist meine Antwort. Ja, es gefällt mir. Nur zu, nimm meine Hand. Wir sitzen schließlich hier, um den Sonnenuntergang zu bewundern … Glaubst du vielleicht, ich hätte nichts anderes zu tun?«
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Langsam läuft das Geschäft an, es wird immer besser, bis wir innerhalb von zwei Wochen eine Warteliste mit Reservierungen für das nächste halbe Jahr vorliegen haben. In erster Linie kommen noch immer viele junge Leute zu uns, aber die Mundpropaganda spült uns inzwischen auch eine anspruchsvollere und wohlhabendere Klientel ins Haus. Mittlerweile konzentriert sich unsere Arbeit nicht nur auf die Wochenenden, viele Gäste bleiben jetzt die ganze Woche über und buchen bei der Abreise gleich für das nächste Jahr.
Die mystische Aura des Ortes führt Yoga-Jünger, Exhippies und Buddhisten zu uns, ganz zu schweigen von den unvermeidlichen Heerscharen von Managern auf der Suche nach einer romantischen Location zur Verführung ihrer Sekretärin. Wir durchleben jenen magischen Moment im Leben, in dem alles gelingt. Alles, was wir anpacken, hat Erfolg. Elisa ist zu einer Gelddruckmaschine geworden, für die Mittag- und Abendessen sind wir permanent ausgebucht, und sie hat sogar Claudio anlernen müssen, damit er ihr bei den Massagen zur Hand geht. Abus Garten blüht und gedeiht. Die Gäste sind begeistert, wenn sie sehen, wo das Gemüse wächst, das sie später auf ihren Tellern wiederfinden, und fast jeder Dritte fährt mit einer Tüte unserer landwirtschaftlichen Produkte nach Hause. Der Fahrradverleih läuft allerdings nicht so gut, weil fast alle lieber auf dem Grundstück bleiben, um das Wunder unserer Giulia nicht zu verpassen.
In Wahrheit braucht man nicht viel, um ein Paradies zu erschaffen. Wir als Stadtmenschen begreifen das sofort. In der Stadt verrichtet niemand seine Arbeit anständig oder mit Freude. Die Verkäuferinnen in den Geschäften lächeln nicht und verlieren sofort die Geduld, wenn man ihnen mehr als eine Frage stellt. In den Restaurants wird man unfreundlich bedient, und dass die Spaghetti al dente serviert werden, ist eher die Ausnahme als die Regel. Wäre ich mit Leib und Seele Autoverkäufer gewesen, hätten mir die Kunden am besten gefallen, die viele Fragen stellen. Hätte mich jemand nach der PS -Zahl eines Motors gefragt, hätte ich ihm sofort die entsprechende Antwort geben können und ihn anschließend noch über das Verhältnis von Gewicht und Motorleistung aufgeklärt. Das ist es nämlich, was eigentlich zählt. Schließlich wäre ich noch auf das Newtonmeter zu sprechen gekommen und hätte genüsslich erklärt, was es mit
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