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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Selbstvorwürfe. Wäre das nicht passiert, diese Sache damals, mit der Blonden, vielleicht hätte sie sich für
     mich entschieden? Hätte ich nicht pausenlos vom Radio gefaselt und auch mal zugehört,
richtig
zugehört, wenn Liddy von ihren Träumen sprach, vielleicht hätte sie uns dann eine Chance gegeben, geglaubt, daß es
bleibt
, lange bleibt. Und ihre Mama geholt, oder in ein Pflegeheim gegeben. Ein, zwei Male deutete sie so was an, am Telefon. Wenn
     ich nachfragte, blieb sie stumm. Wenn ich zu heulen begann, legte sie auf. Meine Beteuerungen wollte sie nicht hören.
    Es half nichts: Liddy war weg. Mein Leben mußte weitergehen, aber das tat es einfach nicht. Ich fiel in ein Koma, einen dämmrigen,
     halbwachen Zustand, in dem ich nichts wahrnahm. Absolut nichts. Rudi zog mich durch, obwohl es ihm selbst sehr schlecht zu
     gehen schien, was ich wie durch |126| einen Nebel wahrnahm, er überwachte mich, half mir ein bißchen. Fütterte mich sogar, schleppte Currywürste an und Döner Kebab,
     weil ich sonst vergessen hätte, etwas zu essen. Ich hörte keine Musik und machte keine Radiopläne mehr. Ich tat überhaupt
     nichts, kassierte Kunden ab wie ein Roboter, antwortete »Ja, klar« auf jede Frage. Man hätte mir meine Stimme nehmen können,
     das wäre erträglich gewesen. Aber Liddy? Herz, Lunge, Leber, beide Nieren, sogar das komplette Gehänge. Aber nicht Liddy.
     Sie war weg, und zu einem Teil trug ich die Schuld daran, glaubte ich. Das machte es nicht einfacher.
     
    Es dauerte fast ein Jahr. Irgendwann gewann das Gute ganz, ganz langsam die Oberhand, die Erinnerung, das Gefühl, etwas gehabt
     zu haben, das eine Bedeutung besitzt, die sich mit nichts vergleichen läßt. Liddy wurde zu einem positiven Aspekt, zu einem
     Bestandteil meines Lebens, zu einem Stück Vergangenheit. Ich überwand sie nicht, aber ich schaffte es, manchmal
nicht
an sie zu denken, und wenn, dann mit einem sentimentalen Lächeln im Gesicht.
    Es wurde langsam Zeit, wieder Radiopläne zu spinnen.

|127| 15. Hello (Turn Your Radio On)
1990
    Ich fand Lindsey in Omaha, Nebraska, dreizehn Stunden Hinflug, viermal umsteigen, drei Stunden vor Ort, zwölf Stunden Rückflug.
     Weil die Zeit so knapp war, trafen wir uns in der Station, KLIX-FM. Sie logierte in einer Art Hütte im Süden der insgesamt
     belanglos wirkenden Stadt. Ich war ein wenig überrascht: Wegen der phonetischen Ähnlichkeit zu
Alaska
war ich der Meinung gewesen, irgendwo im ganz hohen Norden zu landen, gegen eisigen Schneesturm ankämpfen zu müssen und solche
     Dinge; Geographie war nie meine Stärke. Aber Nebraska liegt im Nordwesten der Staaten, und jetzt, Ende September, war es dort
     mild – und eintönig. Omaha habe ein paar über dreihunderttausend Einwohner, erzählte mir ein lustiger besoffener Ami im Flugzeug
     zwischen seinen Zigarettenpausen, die er heimlich im Klo einlegte, und Nebraska sei ’ne Art Agrarstaat. Auch egal.
    Der Sender bestand aus vier Räumen, einer Art Empfang, holzgetäfelt, kleiner Tresen, jede Menge Plakate, Tisch und zwei Stühle.
     Durch ein Fenster konnte ich in das Studio blicken – mikroskopisch, vergleichsweise armselige Technik, kleiner Mixer, zwei
     Bandmaschinen, zwei Plattenspieler, zwei Cartmaschinen, nichts, womit irgendein Discjockey in Deutschland ernsthaft würde
     arbeiten wollen – die Stars brauchen große Bühnen. Eine Endvierzigerin fuhr gerade eine Sendung, sicher ein Hausfrauenprogramm,
     ach was: Keine Ahnung. In den Staaten weiß man nie, da moderieren auch alte Ladies Hardrock-Shows, da
headbangen
Omas bei Guns ’N Roses. Aus einer Art Redaktionsraum kam eine sommersprossengesprenkelte junge Frau in Shorts und labbrigem
     T-Shirt, sie trug einen Stapel Platten, rief freundlich »Hi« und ging hinaus. An der verbleibenden Tür hing ein Schild:
Boss
.
    |128| Lindsey kam von hinten, also von draußen, schlug mir auf die Schulter, und er sah noch immer so aus wie vor vier Jahren. Irgendwas
     um die Mitte Dreißig mußte er jetzt sein. Sneakers, T-Shirt, Collegejacke, Collegeboygrinsen. Keine Änderung.
    »Hi. Ich werde nicht nach Deutschland gehen.«
    »Dann nicht«, erklärte ich, ebenfalls grinsend. »Kannst du mir ein Taxi rufen?«
    Er lachte. Wir setzten uns an den etwas wackligen Holztisch, Lindsey holte seine Zigaretten heraus, ich erzählte von
101.1 PowerRock Berlin
, und er nickte, lächelte, wirkte aber alles in allem eher desinteressiert. Ich argumentierte und lamentierte, erzählte von
     der

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