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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Alle Ratten der Welt hätten mich kampflos überwältigen
     können. Ich war schwach, leer, denn Liddy …
liebte mich nicht mehr?
Vielleicht war die Verletzung doch nicht spurlos geheilt, die Wunde, die ich mit meinem idiotischen Ausrutscher gerissen hatte,
     vor nicht ganz einem Jahr.
     
    Irgendwann, so zwei, drei Stunden nach meiner Abfuhr auf der Tanzfläche, torkelte sie zum Klo, blieb eine gute Viertelstunde
     drin, und als sie wiederkam, war sie zerzaust, unsauber, roch säuerlich. Sie hatte gekotzt. Ich nahm sie bei der Hand, sagte
     schwach: »Laß uns gehen.« Ich erwartete Widerstand, aber sie ließ sich aus dem Laden ziehen. Wir redeten kein Wort auf dem
     Heimweg, Liddy schlief sofort ein, nachdem sie noch mal kotzen war. Ich lag wach, neben ihr, die ganze Nacht, starrte sie
     an und bangte um mein Leben.
     
    »Es tut mir leid«, sagte Liddy, als sie gegen elf in die Küche kam, wo ich schon seit Stunden hockte, Kaffee soff und lustlos,
     völlig abwesend in irgendwelchen superteuren Importmagazinen blätterte, keinen Gedanken von ihr abziehen konnte, irgendein
     Radioprogramm im Hintergrund; ich hörte nicht zu. Sie sah fürchterlich aus, schwankte immer noch, und ihre grünen Augen schimmerten
     matt.
    »Mir auch«, antwortete ich, in der Hoffnung, dadurch welchen Fehler auch immer irgendwie kleiner machen zu können.
    Sie zog die Stirn kraus, ließ es aber gleich wieder, faßte sich mit der Hand an den Kopf, stöhnte.
    »Scheiße«, sagte sie. »Was tut dir denn leid?«
    Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Sag du es mir.«
    »Ach, mein Donny.« Sie lächelte, ein fahriges Lächeln, |124| blätterte in einer zittrigen Bewegung das Magazin vor mir zur Titelseite um. »Mein kleiner, lieber Radiomann Donny.«
    Wir tranken Kaffee und sagten nichts. Ich holte ein paar Aspirin aus dem Bad und mixte sie mit O-Saft. Liddy trank dankbar.
    »Mann, hab’ ich einen Schädel.«
    »Kein Wunder.«
    Sie saß da, nippte Kaffee, starrte auf den Tisch. Dann hob sie den Blick, sah mich an, liebevoll, zärtlich. Meine Sonne ging
     auf. Das Leben fand mich wieder, schlagartig, innerhalb eines Augenblicks. Und innerhalb des nächsten füllten sich ihre Augen
     mit Wasser, das kurz darauf ihr ganzes Gesicht überflutete.
    »Meine Mama ist krank, sehr krank«, sagte sie, nachdem sich der Tränenschub gelegt hatte.
Meine Mama ist krank
, wiederholte ich in Gedanken. Ich mußte ein erleichtertes Aufatmen unterdrücken. Hätte mir jemand mitgeteilt, daß meine verdammte
     Mutter krank ist, meinetwegen auch
sehr
krank, hätte ich
Ja und?
geantwortet. Dann begriff ich. Liddys Mutter war nicht meine Mutter. Liddy liebte ihre Mutter über alles, vielleicht mehr
     als mich. Und außerdem wohnte Liddys Mutter Hunderte von Kilometern weit weg, in irgendeinem namenlosen Nest in Bayern. Soweit
     ich mich erinnerte.
    »Scheiße«, sagte ich höflich, legte so viel Bedauern in die Stimme wie nur irgend möglich. »Was hat sie?«
    Liddy atmete tief, in Schüben ein, zitterte.
    »Sie wird dement, nach und nach. Eine Gehirninfektion. Sie braucht Pflege.«
    »Und?« fragte ich vorsichtig. »Gibt es Leute, die so was können?«
    Liddy nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
    »Ich werde mich um sie kümmern.«
    »Holst du sie her?«
    Jetzt blieb es beim reinen Kopfschütteln.
    »Nein, das geht nicht. Ich muß zu ihr.« Sie pausierte kurz, |125| starrte mich an, aber ihr Blick hing im Nirgendwo, weit hinter mir. »Donny, ich weiß nicht, wie lange das dauern, wieviel
     Kraft es kosten wird. Es wird besser sein, wenn wir uns trennen.«
    Mein Kaffeetopf schepperte zu Boden, mein Herz landete gleich daneben.
     
    Und dann ging alles sehr schnell. Zwei Tage später war Liddy aus meinem Leben verschwunden, weg, einfach so,
einfach weg
. Sie war nicht tot, sondern nur Hunderte Kilometer entfernt, und ich war nicht tot, sondern nur Hunderte Kilometer entfernt,
     aber das nahm sich nichts. Ich starb. Es gab keine Alternative. Bei ihr hatte ich nichts zu suchen, denn ihr Leben gehörte
     bis auf weiteres der kranken Mutter, und da wollte sie mich nicht bei haben, wozu auch. Wir schrieben uns Briefe, eine Zeitlang,
     seitenweise, traurige, schmerzerfüllte, verzweifelte, deprimierende Briefe, und ich kämpfte gegen alle möglichen Gefühle an,
     vor allem Hilflosigkeit, und maßlose, endlose Traurigkeit. Zwei Monate später beschlossen wir, es zu lassen, keine Briefe
     mehr, keine tränenerstickten Telefonate.
    Danach kamen die

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