Rächende Geister
worden?«
Hori berichtete von der Bittschrift, und Esa hörte ihm aufmerksam zu.
Als er geendet hatte, sagte sie: »Schau dir das einmal an.« Sie holte das Löwenhalsband hervor und händigte es ihm aus.
Renisenb erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte.
»Was hältst du davon, Hori?«, fragte Esa.
»Du bist alt und weise«, gab Hori zurück. »Was denkst du?«
»Du gehörst zu den Menschen, die nicht gern eine Meinung äußern, wenn sie sich nicht auf Tatsachen stützen können. Nicht wahr, du wusstest von Anfang an, auf welche Weise Nofret umgekommen ist?«
»Ich vermutete die Wahrheit, Esa. Es war nur ein Verdacht.«
»Und auch jetzt haben wir nur einen Verdacht. Aber hier, wo wir unter uns sind, können wir darüber sprechen. Es scheint mir, dass es für die tragischen Geschehnisse drei Erklärungen gibt. Der Viehhirte hat vielleicht die Wahrheit gesagt, hat wirklich Nofrets Geist gesehen, der gekommen ist, um sich zu rächen. Wir wissen, dass Geister Böses bewirken können. Aber ich glaube, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, denn ich neige dazu, den Deutungen der Priester nicht völlig zu vertrauen.«
»Welche Möglichkeiten?«, warf Hori ein.
»Vielleicht hat jemand aus einem Grund, den wir noch herausfinden müssen, zwei Söhnen Imhoteps den Tod gewünscht. Satipy hat Nofret getötet und später an der gleichen Stelle, wo sie den Mord verübte, eine Vision gehabt, so dass sie in ihrem Schuldgefühl strauchelte und abstürzte – das ist durchaus klar. Der Mensch, der Imhoteps Söhnen den Tod wünschte, hat sich die Furcht vor Nofrets bösem Geist zunutze gemacht, das meine ich.«
»Wer sollte Yahmose oder Sobek töten wollen?«, rief Renisenb entsetzt.
»Kein Diener«, antwortete Esa. »Die Diener hätten das nicht gewagt. So haben wir nur unter wenigen zu wählen.«
»Einer von uns? Das kann nicht sein, Großmutter!«
»Frag Hori«, entgegnete Esa trocken. »Wie du siehst, erhebt er keinen Widerspruch.«
Renisenb wandte sich ihm zu: »Hori, bestimmt…«
Ernst schüttelte er den Kopf.
»Renisenb, du bist jung und vertrauensvoll. Du glaubst, dass die Menschen, die du kennst und liebst, so sind, wie sie scheinen. Du weißt nichts von der Bitterkeit, die im menschlichen Herzen sein kann.«
»Aber wer…?«
Esa fiel lebhaft ein: »Kehren wir zu der Geschichte zurück, die der Viehhirte erzählt hat. Er sah eine Frau in gefärbtem Linnengewand, die Nofrets Halsband trug. Wenn es aber kein Geist war, dann sah er eine Frau, die absichtlich wie Nofret erscheinen wollte. Es kann Kait gewesen sein, es kann Henet gewesen sein – du kannst es gewesen sein, Renisenb! Lasst mich fortfahren. Eine weitere Möglichkeit ist die, dass der Junge gelogen hat. Er berichtete eine Geschichte, weil es ihm so befohlen worden ist. Er gehorchte einem Menschen, der das Recht hatte, ihm zu befehlen, und vielleicht war er sich in seinem Unverstand nicht einmal darüber klar, was der Wahrheit entsprach und was nicht. Wir werden es nie erfahren, denn der Knabe ist tot – an sich auch ein wesentlicher Punkt, der mich in dem Glauben bestärkt, dass der Junge auf Befehl gehandelt hat. Wenn man ihn heute näher befragt hätte, wäre die Lüge vielleicht herausgekommen. Mit Geduld lässt sich unschwer ausfindig machen, ob ein junger Mensch lügt.«
»Du glaubst also, dass wir einen Giftmörder in unserer Mitte haben?«, fragte Hori.
»Ja. Und du?«
»Ich glaube es auch.«
Renisenb blickte bestürzt von einem zum andern.
»Aber der Beweggrund ist mir ganz unerklärlich«, fuhr Hori fort.
»Wenn wir den Beweggrund wüssten«, erwiderte Esa, »dann wüssten wir alles zur Aufklärung der Todesfälle Notwendige. Wir können nur davon ausgehen, wer angegriffen worden ist. Sobek gesellte sich unerwartet zu Yahmose, wohlgemerkt, nachdem Yahmose zu trinken angefangen hatte. Darum steht fest, dass der Täter zwar Yahmose, aber wohl kaum auch Sobek töten wollte.«
»Aber wer könnte Yahmose den Tod wünschen?«, rief Renisenb ungläubig. »Yahmose ist doch sicher derjenige von uns, der am ehesten keine Feinde hat. Er ist immer ruhig und freundlich.«
»Darum ist der Beweggrund offensichtlich nicht in persönlichem Hass zu suchen«, erklärte Hori.
»Der Beweggrund liegt tiefer«, meinte Esa. »Was wäre geschehen, Hori, wenn das Los Yahmose getroffen hätte?«
Nachdenklich gab Hori Bescheid: »Wenn Yahmose wie beabsichtigt gestorben wäre, dann hätten Imhoteps übrige Söhne, Sobek und Ipy, den Hauptgewinn gehabt –
Weitere Kostenlose Bücher