Raecher des Herzens
peinlich. Diese Farce musste ein Ende haben, bevor sie noch geschmackloser wurde. »Es sei Ihnen verziehen, Monsieur le Comte, aus reiner Großmut. Aber über Ihren Antrag kann ich mir, solange mein Bruder verschwunden ist, auf keinen Fall Gedanken machen. Und nun werde ich mich zurückziehen. Da kommt Vater. Sicher haben Sie Dinge miteinander zu besprechen, die nicht für meine Ohren bestimmt sind.«
Der Graf blickte sich um, ließ Celinas Hand los und kam schwankend auf die Füße. »Wie Sie wünschen, Mademoiselle Celina«, raunte er so leise, dass nur sie ihn hören konnte. »Aber wenn das eine Abfuhr war, werden Sie es bereuen.«
Celina hatte sich bereits abgewandt und strebte der Seitentür zu. Sie drehte sich noch einmal um und starrte dem Grafen ins Gesicht. Was sie in seinen Augen las, ließ ihr beinahe das Blut in den Adern gefrieren. Plötzlich fragte sie sich, ob der Wert, den sie ihrem freien Willen und ihrer Freiheit beimaß, nicht doch zu hoch war.
In ihrem Schlafzimmer ließ sie sich erst einmal in einen Sessel sinken und versuchte nachzudenken. »Ich muss dich sehen« hatte sie an Rio geschrieben. Sie wollte wissen, wo er nach ihrem Bruder gesucht hatte und wie die Suche verlaufen war. Sie wollte ergründen, ob er ihr etwas verschwieg, um sie zu schonen. Doch vor allem wollte sie mit jemandem sprechen, der ihre Sorge um Denys ernst nahm.
Aber war das wirklich alles? Allein der Gedanke, Rio bald Wiedersehen zu können, ließ Celinas Herz schneller schlagen. Einerseits beunruhigte es sie, welche Risiken er einging, um mit ihr allein sein zu können. Andererseits schmeichelte ihr die Bereitwilligkeit, mit der er sich um ihretwillen der Gefahr aussetzte. Und nicht zuletzt imponierte ihr die Leichtigkeit, mit der er alle Hindernisse, die zwischen ihnen standen, überwand. Sie wurde langsam süchtig nach dem aufregenden Gefühl, dass Rio immer, wenn sie es am wenigsten erwartete, wie aus dem Nichts erschien. Sie sehnte sich nach seiner männlichen Ausstrahlung, seinem Verständnis, seinen Berührungen und seinem Lächeln.
Celina kam sich geradezu albern vor. Solche Gefühle durfte sie sich nicht erlauben. Und doch wollte es ihr nicht gelingen, Rio aus ihrem Herzen und ihren Gedanken zu verbannen. Und jetzt, wo Denys verschwunden war, brauchte sie ihn mehr denn je.
Doch es war völlig unmöglich, dass er ins Haus kam, während der Vater hier war und sich auf unbestimmte Zeit mit dem Grafen in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Das war viel zu riskant. Aber wie sollte sie es verhindern?
Eigentlich hätten sie längst ein Signal, ein Zeichen verabreden müssen. Celina kämpfte gegen ein hysterisches Glucksen in ihrer Kehle an. Sie stellte sich vor, wie sie einen Schal wie ein Banner am Balkon drapierte, damit Rio wusste, dass die Luft rein war. Dabei waren sie in Wirklichkeit nie vor einer Entdeckung sicher.
Ihr fiel nur eine Möglichkeit ein, ihn aufzuhalten.
Ein Ziel zu haben, etwas tun zu können, statt nur untätig herumzusitzen, war eine große Erleichterung. Celina sprang auf. Sie zog die Klingelschnur neben dem Kamin. Bald würde Suzette bei ihr erscheinen. Inzwischen konnte sie schon einmal den mittemachtsblauen Umhang aus dem Schrank holen. Als Suzette eintrat, war Celina gerade dabei, sich das Gewand überzuwerfen.
»Mam’zelle, was tust du da?«
»Wir gehen aus«, erklärte Celina knapp. »Hol deinen Mantel und warte unten an der Pforte auf mich. Sorg dafür, dass uns niemand sieht. Vor allem nicht Mortimer.«
»Wohin ...«
»Dafür ist jetzt keine Zeit. Ich sage es dir später.«
Suzette rührte sich nicht von der Stelle. Was sie dachte, war ihr deutlich anzusehen. »Mam’zelle!«
»Schnell«, sagte Celina streng. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Als sie unten auf der Straße standen, war Celina froh, sich für den Umhang entschieden zu haben. Ein kalter Nordwind fegte durch die Straßen, heulte um die Ecken und ließ das Gebälk der Häuser knarren. Sein eisiger Atem sorgte dafür, dass die meisten Männer zu Hause geblieben waren oder in den Spielhallen, Kaffeehäusern und Bars Zuflucht gesucht hatten. Celina zog sich die Kapuze ins Gesicht und zurrte die Bänder fest unter dem Kinn zusammen. Dann raffte sie die Röcke und machte sich mit schnellen, entschlossenen Schritten auf den Weg.
Olivier öffnete auf ihr Klingeln hin. Im ersten Augenblick glaubte Celina, er wolle sie nicht einlassen. Dann warf er rasch einen Blick die Straße hinauf und hinab und zog die
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