Raecher des Herzens
Neffe des großen Napoleon hatte gehofft, sich die nostalgischen
Gefühle der Franzosen zunutze machen zu können, denn seit einiger Zeit gedachte man mit wachsender Wehmut der glorreichen Zeiten unter der Herrschaft Bonapartes. Allerdings war es dem Prinzen nicht gelungen, den Thron zu besteigen. Warum sein Coup gescheitert war, ob er überhaupt eine Chance gehabt hatte, sein Ziel zu erreichen, und ob er je aus seinem Gefängnis im Fort von Ham entkommen würde, beschäftigte die Männer, bis ihre Gläser leer waren.
Doch während des Gesprächs und auch später auf dem Weg zurück zur Passage musste Rio immer wieder daran denken, dass Celina die Braut des Grafen werden sollte. Was sollte er tun? Sollte er versuchen, de Lerida noch einmal auf das Feld der Ehre zu zwingen? Oder sollte er sich lieber zurückziehen und die Stadt verlassen, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte? Wie heiß brannte das Feuer seiner Rache noch? Wäre es ihm genug, auf die himmlische Gerechtigkeit zu hoffen und darauf, dass die Vergangenheit des Grafen diesen dereinst einholen würde? Drängte ihn die Sorge um Celina zum Rückzug? Oder wollte er nur sein Leben nicht länger für einen Schwur aufs Spiel setzen, den jener Jüngling, mit dem er kaum noch etwas gemeinsam hatte, vor vielen Jahren im dunklen Laderaum eines Schiffes getan hatte?
Rio fand keine Antwort auf seine Fragen. Als die Morgensonne ihn am nächsten Tag weckte und er ohne einen Umweg über die Eichen von Allard direkt in sein Fechtstudio gehen konnte, schrieb er seine grüblerische Stimmung bereits der Wirkung des Absinths zu.
Im Laufe des Vormittags füllte sich das Studio. Bald drängten sich so viele Männer in den Räumen, dass Rio die Balkontüren öffnen ließ, um frische Luft hereinzu-lassen und ein wenig mehr Platz zu schaffen. Er war vollauf damit beschäftigt, die Neuankömmlinge zu begrüßen und dafür zu sorgen, dass sie je nach Geschmack genügend Wein oder Biere Creole zu trinken bekamen. Außerdem musste er seine Schüler korrigieren und hier und da selbst zum Degen greifen, um eine bestimmte Angriffs- oder Verteidigungstechnik zu demonstrieren. Wenn er von einem Raum zum anderen ging, machte man ihm respektvoll Platz. Niemand schien an dem, was er sagte oder tat, den geringsten Anstoß zu nehmen. Fast jeder wollte ihm gratulieren, weil er binnen drei Tagen sechs Gegner im Duell besiegt hatte. Rio wehrte bescheiden ab, freute sich aber doch, dass die Milde gegenüber Denys Vallier seinem Ruf als Fechtmeister letztlich nicht geschadet hatte. Offenbar war man sich inzwischen wieder einig, dass er nicht davor zurückschrecken würde, jeden Mann, der sich ihm ernsthaft entgegenstellte, mit der Klinge zu durchbohren.
Am späten Vormittag erschien Celinas Bruder. Auf die Stille, die sich für einen Augenblick über das Studio senkte, folgte viel zu lautes Gerede. Rio bat den Kunden, mit dem er gerade sprach, ihn zu entschuldigen, und ging dann zu Vallier.
Olivier war schon vor ihm zur Stelle und bot Denys ein Glas Wein an. Dieser lehnte dankend ab. »Monsieur de Silva«, sagte er und verbeugte sich mit ernstem Blick, »haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Selbstverständlich«, antwortete Rio. »Legen Sie nur gleich den Mantel ab. Ich bin sofort wieder bei Ihnen.«
»Ich will nicht ... ich bin nicht wegen des Unterrichts hier. Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen, wenn das möglich ist.«
Rio gefiel der verkniffene Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes nicht. Wieder einmal bewahrheitete sich das Sprichwort, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben sollte. »Hier im Studio ist es zu voll«, sagte Rio. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«
Er ging Denys voran die Treppe hinab und durch die Hintertür hinaus. Dort zwischen dem Studio und der Rückseite des Nachbarhauses, das an die Rue Chartres grenzte, gab es ein kleines grünes Geviert. Mit dem großzügigen, schön bepflanzten Hof der Valliers hatte es wenig gemein. Doch unter einem zerzausten Chinabaum, der seine schmalen gelben Blätter über die kleine Rasenfläche verstreute, stand immerhin ein schmiedeeiserner Stuhl.
Rio bot seinem Besucher mit einer Handbewegung den Sitzplatz an, während er sich mit überkreuzten Beinen an den Baumstamm lehnte. »Womit kann ich Ihnen dienen? Wie geht es Ihrem Arm?«
»Danke, er sieht schon wieder ganz gut aus. Aber es geht nicht um mich, es geht um eine andere Person.«
»Und um wen handelt es sich?«
»Um meine Schwester Celina.«
Rio
Weitere Kostenlose Bücher