Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition)
ihrer Tochter über das blonde, zu Zöpfen gebundene Haar. Doch Lisa schüttelte bockig den Kopf.
»Jetzt sieh mich doch mal an!«, sagte Anne nun streng. Wenn Lisa etwas zugestoßen war, dann musste sie unverzüglich handeln. Sie musterte die Beine der Achtjährigen. An den Oberschenkeln waren Kratzer zu sehen. Anne geriet in Panik. »Was ist passiert? Rede mit mir! Hat dir jemand was getan?«
Schneller, als Anne reagieren konnte, drehte sich Lisa um, sprang auf und warf sich vor der Mutter in Pose. Mit Tränen in den Augen, verrotzter Nase und trotzigem Gesicht schrie sie, auf den Saum ihres türkisfarbenen Sommerkleidchens deutend: »Das ist passiert! Schau!«
Anne starrte auf das Kleid. Es war zerrissen und bestand an der vorderen Seite nur noch aus zwei Fetzen.
»Alles ist kaputt.«
»Was?«, fragte Anne hilflos.
»Mein Kleid. Mein Sommerkleid ist kaputt«, jetzt ging Lisas Trotz in Heulen über. »Mein Sommerkleid!«
»Ist das alles?«, fragte Anne, sie musste vor Erleichterung beinahe lachen. »Nur das Kleid ist kaputt?«
»Nur?«, schrie Lisa. »Das ist mein Lieblingskleid!«
Ich liebe meine Tochter, dachte Anne nur. Ich liebe sie. »Wir schauen, ob wir ein neues Kleid für dich finden. Am Wochenende, okay?«
»Ich will kein neues, ich will das hier!«
»Jetzt zieh es erst mal aus. Vielleicht kann ich es sogar flicken.«
»Kannst du nicht!«
»Oh, ich glaube, jetzt hat es an der Tür geklingelt«, sagte Anne. Sie war heilfroh, aus der festgefahrenen Situation herauszukommen. Mit gespielter Leichtigkeit flötete sie, als sie das Zimmer verließ: »Wer da jetzt wohl noch kommt?«
Als die Polizistin die Tür öffnete und sah, wer vor ihr stand, entgleisten ihr vor Überraschung aber doch kurz die Gesichtszüge. »Hallo«, sagte sie, jedoch, wie sie sofort fand, viel zu leise. Warum hauchte sie so dämlich? Aber was sollte sie tun: Sie hatte plötzlich leichte Atemnot.
»Hallo«, erwiderte der Mann, er lächelte. »Ich war gerade in der Nähe, und da dachte ich, ich könnte mal … also, wir hatten doch ausgemacht, dass wir uns mal auf einen … also … bei dem Prozess … einen Kaffee …«
Er ist auch aufgeregt! Annes Herz klopfte schnell und heftig wie der Antrieb eines Raddampfers.
»Oh ja.« Sie hatte ihre Stimme wiedergefunden. »Kommen Sie doch rein.« Sie trat einen Schritt zurück. »Wir hatten gerade ein kleines Drama.«
Der Mann sah sie verunsichert an. »Wir?«
»Meine Tochter und ich«, antwortete Anne schnell. Natürlich konnte Johann Bibertal – der Anwalt aus dem Prozess mit der Seefest-Leiche – nicht wissen, dass sie eine Tochter hatte. »Meine Tochter hat sich das Kleid zerrissen. Ihr Lieblingskleid.« Mein Gott, was rede ich da nur? Ich muss doch jetzt toll sein, interessant, attraktiv, aufregend, coole Geschichten erzählen, aufreizend wirken, mich zeigen. »Wollen Sie einen Kaffee?«
»Ich dachte eigentlich, wir könnten … ich stehe draußen etwas verboten mit meinem …«
»Cabrio?«, fragte Anne und fand sich im selben Moment total doof.
»Auto«, antwortete Johann Bibertal. »Ich dachte, wir könnten was trinken gehen. Es ist ein so schöner Sommerabend. Irgendwo am Wasser, dachte ich …«
»Jetzt?«, Anne sah auf die Uhr und sagte dann, ohne groß zu überlegen: »Puh, das geht jetzt nicht. Ich komme gerade erst nach Hause. Ich muss noch mit Lisa lernen … ähm … sprechen. Und … ähm … ihr eine Geschichte vorlesen …« Das war nicht schlau gewesen, was sie da gesagt hatte, verdammt, das war gar nicht schlau gewesen. Wenn der was wollte, dann war es sie, und nicht den Alltag mit ihrer Tochter. Verflucht. »Wollen Sie nicht auf einen Kaffee …?«
»Oh, nein, es tut mir leid, dass ich so unangemeldet hier aufkreuze. Das geht natürlich nicht. Das kann ich nicht erwarten … Ich war nur eben hier, und dann dachte ich mir, weil Sie und ich … also, wir …«
Anne lächelte ihn an, strahlte ihn aus ihren großen blauen Augen an. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihn doch verzaubert zu haben, trotz des Mists, den sie geredet hatte; doch dann fasste er sich und sagte mit trockener Stimme, die so viel Emotion enthielt, wie sie es wohl bei der Verlesung eines Antrags vor Gericht hatte: »Wir machen das ein andermal. Aber wir machen das. Also, sorry für den Überfall. Tschau!« Und weg war er. Anne stand noch eine gefühlte Ewigkeit im Türrahmen und starrte das längst zugefallene Gartentor an.
Als Minister eines so bedeutenden Staates wie Bayern
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