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Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition)

Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition)

Titel: Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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sieht und erlebt man viel. Mal wird man in Ganzkörperplastiktüten gekleidet und durch raumschiffartige Produktionsräume geschoben, in denen unter hoch sterilen Bedingungen etwas hergestellt wird, dessen Zweck man nicht versteht, von dem aber ein mit allen PR-Wassern gewaschener Gelkopf behauptet, es werde in Kürze den Weltmarkt erobern. Man bestaunt dreijährige Kinder mit Sprachfehlern, die einem in nach Mottenkugeln duftenden Kleidern unverständliche Gedichte vortragen. Dann muss man direkt hintereinander erst heimische Marmelade und dann rohes Hackfleisch aus der Region verkosten, um schließlich zunächst Schulkindern, später Rindern übers Haar zu streichen, ohne dabei den Anschein zu erwecken, ein Pädophiler oder Vegetarier zu sein. Als Minister fliegt man zum Nordpol oder zum Südpol, man interessiert sich für Eisbären und Christkinder; man lässt Eingeborenentänze über sich ergehen und eröffnet Leichenhallen. Gerne wird man als Minister auch auf Radtouren durch verregnete Waldgebiete geschickt oder gemeinsam mit Hunderten schwitzenden Bürgern auf Berggipfel gejagt. Man wird wahlweise mit Eiern, Spritzen, Tomaten, Farbbeuteln, Schuhen und anderen nicht zum Werfen bestimmten Gegenständen attackiert, mit Messern bedroht, mit Geld bestochen und von Frauen angesprungen. Die Seele eines Ministers ist dazu da, Schreckliches und Erstaunliches zu erdulden.
    Insofern zählte der Anblick der zwei weiblichen Brüste, die sich an die Fensterscheibe im ersten Stock der Bank drückten, in der gerade eine Geiselnahme stattfand, zu den eher angenehmen ministeriellen Erfahrungen.
    »Ja, was sehe ich denn da?«, rief der Innenminister überrascht aus, als er des wohlgeformten Busens ansichtig wurde, direkt neben einem Plakat, auf dem »Frühlingsbankräuber« stand und »Wir sind die 99«.
    »Das ist eine nackte Frau«, erklärte Kurt Nonnenmacher fachmännisch. »Respektive die Geiselnehmerin.«
    »Ja, das dachte ich mir schon«, antwortete der Innenminister, denn ein Minister ist niemals um eine intelligente Antwort verlegen. Das ist sein Job. »Femen«, murmelte er dann noch.
    »Nein, wir wissen noch nicht, wie sie heißt. Die Interpol-Fahndung hat keinen Treffer ergeben.«
    »Ich meine nicht, dass die Dame Femen heißt«, dozierte der Innenminister mit fränkischem Akzent. »Femen bezeichnet eine Gruppierung, die sich dem politischen Protest verschrieben hat, Agitprop, verstehen Sie, Herr Nonnenmacher?«
    »Pop?«, fragte Nonnenmacher irritiert. »Also Musik?«
    »Nein, ich sagte nicht Pop, sondern Agitprop.«
    »Ach so«, antwortete Nonnenmacher und beschloss, nicht näher darauf einzugehen, um sich keine Blöße zu geben. Der Innenminister war ein gebildeter Mann mit einem Haufen Ahnung in fast allen Lebensbereichen.
    Auch war er ein Mensch, der gelernt hatte, anderen in die Seele zu blicken, und so merkte er instinktiv, dass der Leiter der Polizeiinspektion vom See noch nicht mit Agitprop-Aktivitäten in Berührung gekommen war. Irgendwie war das aber auch nur zu verständlich: Weder die an den steilen Berghängen beheimateten Gämsen noch die Segler auf dem See oder gar die Millionäre, die sich und ihre Goldreserven hinter hohen Hecken versteckten, hatten mit Agitprop etwas am Hut. Mit einem gönnerhaften Lächeln führte der weltgewandte Franke daher, noch immer konzentriert die beiden nackten Brüste an der Fensterscheibe studierend, aus: »Agitprop kommt von Agitation und Propaganda. Und eigentlich ist es kommunistisch.« Nonnenmacher hob die Augenbrauen. »Aber die Femen-Frauen, das sind Feministinnen.«
    »Also kommunistische Feministinnen«, traute sich Nonnenmacher jetzt doch wieder aus der Deckung und beobachtete entsetzt, wie die Geiselnehmerin am Fenster rote Farbe auf ihren Oberkörper schmierte und diese dann mit ihren Brüsten über die Glasscheibe verteilte.
    »Nicht ganz, nicht ganz«, verbesserte der kluge Minister seinen Untergebenen. »Obwohl diese Protestform aus der ehemaligen Sowjetunion stammt und sich gegen Sextourismus, Wahlfälschung und Putin richtet.« Fränkisch ausgesprochen klang der Name des russischen Quasidiktators wie ein tödliches Gift oder mindestens wie ein verbotenes Düngemittel. Nonnenmacher war verstört. Sextourismus, das Phänomen war auch in seinem Tal bekannt. Nicht wenige Männer zog es in regelmäßigen Abständen von der bayerischen Seeidylle aus in Richtung Kreisstadt oder Landeshauptstadt, wo, so wusste er von den Kollegen von der Sitte, dieses und jenes

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