Räuberleben
sehen, was die weiteren Verhöre ergeben.«
»Ihr bringt mich… Ihr bringt mich…«, stammelte Hannikel.
»Nach Sulz«, sagte Schäffer. »Vors Malefizgericht.«
Hannikel schloss die Augen und schwieg. Wir schafften ihn in Ketten zum Wagen, und als die Häscher ihn darauf gehoben hatten, stellte er einen Halbtoten dar, schien auch gar nicht mehr zu atmen. Er blieb liegen, wie man ihn abgelegt hatte, zusammengekrümmt, die Ketten teils aufgerollt, teils in argem Durcheinander.
Als unser Tross den Schlosshügel hinunterfuhr, war in den Gassen von Sargans wieder viel Volk zusammengeströmt; man wollte Hannikel von nahem sehen. Der allgemeine Zorn, der ihm galt, belebte ihn offenbar, trotz der Eisenketten richtete er sich langsam auf, und plötzlich sprach er mit einer Stentorstimme, die uns alle überraschte. »Was wollt ihr denn?«, wandte er sich an die Leute. »Weshalb verwünscht ihr mich? Was habe ich euch getan?« Es gelang ihm, mit diesen wenigen Worten die ihm Nächststehenden zu übertönen, und in kürzester Zeit wurde es erstaunlich still.
»Ich bin doch auf eurer Seite!«, rief Hannikel. »Ich liebe die Freiheit wie ihr! Ich bin unschuldig. Befreit mich, wenn ihr nicht wollt, dass mein Blut über euch kommt! Oder wollt ihr wirklich zulassen, dass ich an einen Tyrannen ausgeliefert werde?« Er gebrauchte für diese kurze Rede ein schwäbisch gefärbtes Deutsch, das er aber geschickt dem schweizerischen Dialekt anpasste, so dass die Leute ihn gut genug verstanden. Sie waren verblüfft und verwirrt, die Stille hielt an und wurde nur von einzelnen Rufen durchbrochen. Es hätte, so empfand ich, wenig gebraucht, und die Stimmung hätte sich gegen uns gewandt.
Alles war so schnell gegangen, dass auch Schäffer überrumpelt gewesen war, doch noch während Hannikel sprach, gab er knappe Befehle. Zwei unserer Husaren kletterten auf den Wagen; sie rissen Hannikel, der weitersprechen wollte, zu Boden, einer hielt ihm die Hand über den Mund, nur noch ein Gurgeln und Stöhnen drang heraus. Der Leutnant, der zuvorderst ritt, gab seinem Pferd die Sporen, die Husaren, die den Wagen eskortierten, setzten nach, die Leute drückten sich an die Hausmauern, um nicht umgeworfen zu werden. In raschem Tempo waren wir aus dem Städtchen hinaus, Schäffer wagte sogar einen kurzen Galopp, mein Einspänner holperte hinterher.
Bald waren wir am Übergang nach Balzers, die Fähre brachte uns auf die liechtensteinische Seite, wo uns ein Kontingent dortiger Soldaten in Empfang nahm. In Vaduz, wo wir gegen halb sechs Uhr beim Gefängnis eintrafen, zögerte Schäffer, ob Hannikel in einer Einzelzelle oder bei den anderen Zigeunern unterzubringen sei. Er entschied sich für Ersteres und ordnete an, dass wie in Sargans zwei Wächter in seiner Zelle wachen sollten.
Ich habe nun wieder, weil es so viel zu erzählen gab, Bogen um Bogen beschrieben und es dabei sträflich versäumt, die eine oder andere Insektenbeschreibung nachzuliefern, die ich Ihnen doch versprochen habe. Um die Wahrheit zu gestehen: Das Menschengewimmel, dessen Zeuge ich bin, hat die Beobachtungen, die ich dem Krabbeln und Summen ringsum widmen möchte, in den letzten Tagen völlig verdrängt. Den Schneemohrenfalter will ich aber nicht vergessen… Der Kopf droht mir auf den Brief zu sinken, und die Kerze ist beinahe niedergebrannt. Mitternacht vorbei. Morgen wird es nach Feldkirch weitergehen, dann nach Ulm; wollte Gott, wir wären schon in Sulz!
Ihr treuer Forscherfreund Wilhelm Grau
Im Rheintal und im Württembergischen, 11. bis 24. September 17 86
Nun hat der elende Schäffer den Dad wieder gefangen und eingesperrt. Wer gibt ihm diese Macht über die Sinti? Er wird sie alle nach Sulz bringen und vors Gericht, dann droht ihnen das Allerschlimmste, der Galgen nämlich oder das Zuchthaus, in dem man lebendig begraben ist. Die Angst sitzt in der Kehle wie das Gewölle einer Eule.
Wenzel hat Dieterle zum Guckfenster hochgehoben, als sie den Dad durch den Gang schleppten. Da hat er ihn für einen Augenblick gesehen. Die schweren Ketten zogen den Dad fast zu Boden, er konnte nichts sagen, weil er geknebelt war, nur einen Blick warf er Dieterle zu, einen Blick voller Kummer und Zärtlichkeit. Auch ein Aufbegehren konnte man daraus lesen: Gib nicht auf, wehr dich mit List! Solche Vaterblicke kann der Sohn besser lesen als das Alphabet, aber er hätte anderes gebraucht, eine Umarmung, den geflüsterten Zuspruch ins Ohr, doch mit gefesselten Händen kann
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