Räuberleben
kein Sinto den anderen umarmen.
Hinter der nächsten Mauer sitzt er nun, der Dad. Es wäre klüger, sagt Wenzel, wenn er endlich zugeben würde, dass er der Hannikel ist, es würde Schäffer ein wenig milder stimmen. Alle sind sie niedergeschlagen, sie hätten sich doch gewünscht, dass dem Dad die Flucht gelingt und er an der Spitze eines Sintiheers gegen die Württemberger zu Felde zieht. Davon konnte man träumen, solange er draußen war und unterwegs. Jetzt ist der Traum zu Ende, es sei denn, der merkwürdige Mann, der Dieterle manchmal mitleidig ansieht, stellt sich auf ihre Seite und öffnet nachts die Kettenschlösser beim Dad, in Chur hat ihm ja auch einer geholfen. Dieser Mann, der gebückt geht, als fürchte er dauernd, den Kopf an der Decke anzustoßen, ist Schäffers Schreiber, wie Wenzel weiß, einer, der in den aneinandergereihten Buchstaben einen Sinn erkennt. Die Daj erkennt ihn auch, ihren Taufnamen, Katharina, kann sie mit Tannenzweiglein legen. Männer müssen anderes können. Auf der Geige hätte Dieterle spielen lernen wollen, so schön wie der Geuder, aber der spielte lieber selbst, als es dem Neffen beizubringen, und er sang dazu das Lied, das Dieterle so gut gefällt: Oh, die Geige gibt mir Leben. / Trunk und Speis muss sie mir geben! / Wenn ich einst nicht geigen kann, / bin ich ein geschlagner Mann.
Die Geige haben sie dem Geuder jetzt weggenommen, und einer hat sie über dem Knie zerbrochen. Ein paar Kunststücke hat Dieterle anstelle des Fiedelns gelernt, den zweifachen Überschlag und mit der Stange übers Seil gehen, wenn es kräftig genug gespannt ist. Gelenkig ist er durch vieles Üben geworden, so dass er die Beine hinter dem Kopf verschränken kann. Das brachte ab und zu auf Marktplätzen einige Münzen ein, bevor die Stadtwächter sie wieder vertrieben. Gerne würde er eines Tages ein paar Vögel dressieren, Finken oder Stare, so wie er es bei einem aus der Reinhardtsippe gesehen hat. Da zogen vier Vögel eine Spielzeugkutsche, den Bauern, die zuschauten, blieb der Mund offen vor Staunen. Oder eine Ringelnatter könnte er dazu bringen, dass sie durch ein Knopfloch kriecht und das Publikum anzüngelt.
Dort, wo der Dad jetzt sitzt, bleibt es still, man hört nichts durch die Mauer. Aber auf der anderen Seite drüben weinen und wimmern die Kleinen vor sich hin, das dringt durch den dicksten Stein. Man hat ihnen wohl zu wenig zu essen gegeben, und gerade die Kleinste, Urschels Kind, war in letzter Zeit stets hungrig, Urschel hat ja keine Milch mehr, seit sie mit den Soldaten hinter die Büsche gegangen ist, und es war schwierig, für den Säugling Kuhmilch oder einen Milchbrei zu bekommen. Bastardi hat Dieterle ausgelacht, weil er die Kleine gerne füttert, wenn für einmal etwas Brei vorhanden ist. Aber er tut es wirklich gerne, er fühlt sich nützlich, wenn das Kind seinen Finger abschleckt und danach an ihm saugt.
Eine schlechte Nacht im Vaduzer Gefängnis. Gegen Morgen erscheint Dieterle der Totengeist, der Mulo, den er am meisten fürchtet. Er tut ihm nichts, aber allein seine Anwesenheit ist schrecklich, das Herz zerspringt Dieterle beinahe, weil es so rasend schlägt, hundertmal lieber wäre es ihm, den Toni lebendig zu wissen, statt ihn als herumwandernden Geist in der Nähe zu ahnen. Das ist alles Einbildung, sagt Bastardi mit wütender Entschiedenheit, als Dieterle ihm sein Grausen gesteht; dabei zeigt die Angst sich auch in Bastardis Gesicht.
Ein schlimmer Morgen nach der schlimmen Nacht. Sie bekommen einen Schluck Wasser, etwas Brot, einen Zipfel Wurst. Sie werden zum Scheißloch geführt, dann mit Stockhieben zu ihrem Käfigwagen hinausgetrieben, auf dem anderen sind die Frauen und die Kinder schon eingesperrt. Es regnet zeitweise immer noch, aber leichter jetzt, und es ist wärmer geworden, so dass die Feuchtigkeit in den Kleidern nicht so schlimm ist wie an den Vortagen. Der Schreiber steht plötzlich wieder da, er spricht Dieterle an: Ob er nicht bestätigen wolle, dass der Mann, der sich hartnäckig Kilian Schmid nennt, sein Vater sei, der Hannikel, das habe er doch in Chur vor Gericht gesagt. Dieterle hütet sich, eine Antwort zu geben, und die Freundlichkeit des Schreibers hält er von sich fern wie etwas Schimmliges. Überdies wissen seit Hansjörgs Verrat ja alle, dass der Dad Hannikel ist. Warum wollen sie unbedingt, dass er es selber zugibt? Seinen Stolz brechen, das will der Schäffer, sagt Wenzel, aber Hannikel ist unbeugsam wie ein Eichenstamm, der
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