Räuberleben
pickte an seinen Eingeweiden herum. Zum Glück war Bastardi bei ihm. Der ältere Bruder sprach ihm gut zu, wenn Dieterle am Verzweifeln war, er legte die Arme um ihn, wenn er fror. So liebevoll war Bastardi vorher nie gewesen, eher hochfahrend und streng dem Jüngeren gegenüber. Vor dem, was kommen würde, fürchtete sich auch Bastardi, das spürte Dieterle an seiner Unruhe, an seiner belegten Stimme. Es würde lange Verhöre mit scharfen Fragen geben, Schäffer wollte Geständnisse, und er würde sie mit Härte und List erzwingen, einen gegen den anderen ausspielen. Es konnte gut sein, dass bald schon der Galgen auf sie wartete, sie hatten ja Schlimmes verbrochen. Daran wollte Dieterle nicht denken, oder dann stellte er sich vor, dass vielleicht Herzog Karl, der Herrscher in Stuttgart, gnädig sein würde, weil doch der Dad dem Lande Württemberg einen Dienst erwiesen hatte, indem er die Juden ausplünderte.
Das Schlimmste auf dieser tagelangen Fahrt war, dem Dad so nahe zu sein und doch von ihm getrennt, wie wenn er gar nicht da wäre. Selbst die Augen, mit denen er sonst reden konnte, waren unter der Maske verschwunden. Schlimm war auch, dass manchmal der Verräter Hansjörg, dem man ein schlechtes Pferd gegeben hatte, eine Weile neben ihnen herritt, er machte dabei ein Gesicht wie aus Stein, aber man sah ihm an, wie sehr er es genoss, ohne Fesseln zu sein und zu wissen, dass er mit dem Leben davonkommen würde. Er tat, als höre er die Verwünschungen nicht, die ihm die Männer auf dem Wagen zuzischten. Nach einer Weile ließ er dann sein Pferd im Trott zurückfallen, so dass er außer Sicht geriet. Diesen Verräter hätte man töten müssen, nicht Toni, dachte Dieterle, aber es hätte genügt, ihn zu erstechen. Einen Menschen zu Tode quälen, das wollte er nie wieder.
Der merkwürdige Mann, Schäffers Schreiber, blieb bei Halten bisweilen in Dieterles Nähe, er wollte mit ihm sprechen, doch Dieterle wollte nicht, auch nicht, wenn der Mann ihn zur Latrine begleitete oder ihm sogar etwas zu essen brachte. Das Extrastück Brot, das er in Ulm von ihm bekam, warf er weg, gleich waren Krähen da, stritten sich darum und flogen mit der Beute davon. Da schaute der Mann ihn an, als habe Dieterle ihm ein Leid zugefügt, und das beschämte ihn doch ein wenig. Aber auch der große Bruder schärfte Dieterle ein, er solle keinem von denen vertrauen, sie wollten die Sinti nur gegeneinander aufhetzen, und das schwächste Glied in der Kette sei in ihren Augen der Jüngste, den wollten sie dazu bringen, auf ihre Seite überzulaufen und Dinge auszuplaudern, die den Sinti schaden würden. Dennoch hätte Dieterle den Schreiber zwei- oder dreimal beinahe gebeten, dem Dad die Maske abzunehmen. Aber es mochte ja geschehen - so hofften alle inständig -, dass aus ihrem Stamm eine Schar von Mutigen dem Zug auflauern und die Gefangenen befreien würde. Man müsste gleich schießen, das würde die Bewacher lähmen - und dann weg in die Wälder, weit weg von denen, die wie Schäffer das Recht ausübten, ihr Recht, das nur für sie galt und nicht für die Sinti. Immer wieder malte sich Dieterle diese Szenen aus: wie Schäffer und der Verräter Hansjörg schon von den ersten Schüssen getroffen wurden, wie vom Dad die Ketten abfielen und er sogleich das Kommando übernahm, wie Dieterle hinter dem Dad auf dem schnellsten Pferd saß, wie sie flohen, in rasendem Galopp. Und dann der Wald, in dem sie sich auskannten wie niemand sonst, ein Lagerplatz auf einer Lichtung, wo sie sich endlich sicher fühlen konnten, und dort würde schon die Daj auf sie warten. Oder Wenzel und Bastardi würden sie holen und zu ihnen bringen, und Geuder würde am Lagerfeuer auf der Geige spielen. Aber mit jeder Stunde näherten sie sich der Stadt Sulz, mit jeder Stunde wuchs die Bangigkeit vor den Verhören. Sie kamen zwar durch Wälder, es roch nach Holunder und Harz. Sonnenlicht drang durch dichte Wipfel und fleckte die Straße, die so holprig war, dass sie immer wieder gegeneinanderfielen. Doch es waren traurige Wälder, denn für einen gefesselten Sinto verwandelt sich der Wald, den er durchquert und nicht betreten darf, in eine Ödnis.
Sie erreichten Sulz gegen Abend, bei schönem, beinahe schwülem Wetter nun. Es war der vierzehnte oder fünfzehnte Tag ihrer Reise, wie Wenzel zu zählen versuchte, auch ihm gerieten die Tage und Nächte durcheinander. Sie sahen den Fluss vor sich, den Neckar, blaugrün schimmernd im Abendlicht, man hätte sich
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