Räuberleben
hineinstürzen mögen und forttreiben lassen. Es war eine Stadt wie andere, in denen sie auf der Reise haltgemacht hatten, große Tore, die Häuser aus Stein, dunkle Riegelbalken, Türme, ein Marktplatz. Aber mehr Bäume gab es als anderswo, Weiden am Flussufer, Pappeln, Linden, Obstbäume in Gärten: überall Grün zwischen und hinter den Mauern. Auch hier liefen die Leute zusammen, um die Gefangenen zu begaffen und zu beschimpfen. Aber hier mussten sie nun bleiben, hier würden sie eingekerkert für lange Zeit, das war Wenzel, nachdem ihm ein Husar den Namen der Stadt genannt hatte, gleich klar. In Sulz regierte, im Namen des Herzogs, der Oberamtmann Schäffer, er war der Mächtigste hier, und er wollte Hannikel und seine Sippe verderben und vernichten.
Schäffer wurde von prächtig gekleideten Würdenträgern begrüßt, dann pflanzte er sich zu Pferd vor den beiden Gefangenenwagen auf und hielt eine Ansprache, von der Dieterle fast nichts verstand, nur dass die Missetäter hier verhört würden und einem gerechten Urteil entgegensähen. Von den Zuschauern kamen vereinzelte Zurufe, man wollte Hannikel sehen, der immer noch die Ledermaske trug. Sie wurde ihm, auf einen Wink Schäffers, abgenommen; zum Vorschein kam ein ungewöhnlich bleiches, von Schweiß überglänztes Gesicht, das sich rasch wieder dunkelgelb verfärbte. Dieterle sah, dass der Dad sprechen wollte und nach dem langen erzwungenen Schweigen um Worte rang. Seine Züge verzerrten sich vor Anstrengung, es war nun aber so laut auf dem Platz, dass man ohnehin nichts gehört hätte. Er sah auch, dass der Schreiber zu Schäffer trat, der inzwischen vom Pferd gestiegen war, und ihm etwas ins Ohr sagte. Danach besprach sich Schäffer kurz mit dem langen Leutnant, zeigte dabei auf Dieterle und befahl mit lauter Stimme, die Gefangenen nach Vorschrift aufzuteilen und abzuführen.
Dieterle wurde von den Männern getrennt und musste, eskortiert von bewaffneten Stadtwächtern, den Frauen und den kleineren Kindern durch verwinkelte Gassen folgen. Mit dem Dad hatte er nicht einmal einen Blick tauschen können. In Dieterles Brust wuchs etwas wie ein Wesen mit vielen Zähnen, dessen Bisse ihn von Schritt zu Schritt stärker schmerzten. Er hatte nun plötzlich entsetzlichen Durst, einen ganzen Trog mit kühlem Wasser hätte er austrinken mögen. Sie kamen zu einem Haus mit vergitterten Fenstern, es musste das Stadtgefängnis sein. Dieterle wagte seinen Bewacher zu fragen, wohin man die anderen brächte, die Männer und Hannikel. »Der Hannikel?« Der Wächter lachte und rückte seine Muskete zurecht. »Der kommt in den Turm. Hier sind vorerst nur die Frauen und Kinder. Ein paar von euch warten ja schon seit Wochen da drin.« Sein Ton wurde rüder. »Schmutzig und zerlumpt seid ihr alle.«
»Ich bin kein Kind mehr«, sagte Dieterle und strengte sich an, seine Stimme in der Gewalt zu behalten.
»Offenbar doch«, antwortete der Wächter. »Jedenfalls hat der Herr Oberamtmann so entschieden.«
Die hallenden, beinahe lichtlosen Gänge kannte Dieterle schon von all den Orten, an denen man sie eingesperrt hatte, auch den Geruch nach feuchtem Mörtel und Pisse, nach Kohlsuppe und Mäusedreck. Eine Tür wurde geöffnet; man stieß Dieterle in ein Gelass, in dem schon andere waren, nahm ihm die Fesseln ab. Im Halbdunkel blieb er stehen und hörte die Stimme, die ihm vertraut war wie keine andere, sie machte ihn so weich, dass die Beine unter ihm wegsanken. Doch da war die Daj schon bei ihm, ihre Arme hielten ihn fest, er barg das Gesicht an ihrem Hals, der immer noch roch, wie er riechen musste: nach Wald, nach zerdrückten Blättern und Erde. Ihr Haar kitzelte seine Schläfen, er presste sich stärker an sie, damit niemand merkte, dass ihm jetzt die Tränen kamen.
»Mein Kleiner«, summte die Daj und wiegte ihn wie in fast vergessenen Zeiten, »jetzt bist du endlich da. Warum bist du so lange weggeblieben?«
Ein Raunen ringsum, mehrere Stimmen, ein Kinderweinen. Dennele, die in einem Winkel geschlafen hatte, kam dazu, überhäufte Dieterle mit Küssen und Umarmungen. Er machte sich los von ihr, setzte sich zur Mutter auf den Boden, sie hielten sich bei den Händen, und Dieterle dachte, er wolle sie nie mehr loslassen, so lange hatte er die Mutter nicht mehr gehalten. Allmählich sah er sie ein wenig besser. Das kleine Fenster weiter drüben hatte blinde Scheiben und ließ gerade so viel Licht durch, dass er den Eindruck bekam, die Daj sei in wenigen Monaten gealtert, ja,
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